20.11.2006

Studiengebühren
und BAFöG-Blockade

Die letzte im Oktober 2005 vorgelegte PISA-Studie zeigte - einmal wieder - auf, daß in Deutschland Kindern aus den unteren Schichten deutlich schlechtere Bildungs-Chancen zugestanden werden, als solchen mit Eltern aus dem oberen Drittel dieser Gesellschaft. Diese Kluft reißt weiter und weiter auf - Deutschland ist in dieser Hinsicht das reaktionärste und kinderfeindlichste Land in der EU.

Beispielsweise haben Fünfzehnjährige aus wohlhabendem Elternhaus bei identischem Wissensstand und Lernvermögen im Bundesdurchschnitt eine rund viermal größere Chance, das Gymnasium zu besuchen als solche aus Unterschichten-Familien. Auch die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind erheblich. In Bayern sind die Bildungs-Chancen von Kindern aus begüterten Familien gar um den Faktor 6,65 höher als die von Kindern aus Unterschichten-Familien. Brandenburg hat mit 2,38 den geringsten Faktor und damit das am wenigsten schlechte Ergebnis. Allerdings ist das Niveau der Schulen in Brandenburg besonders niedrig.

Schon der PISA-Bericht aus dem Jahr 2000 belegte, daß in keinem anderen Industriestaat der Schulerfolg so sehr von der sozialen Herkunft abhängig ist wie in Deutschland. Seitdem ist der Vorsprung von SchülerInnen aus begüterten Familien noch einmal deutlich angewachsen. In Mathematik und in den Naturwissenschaften beträgt der Vorteil gegenüber Kindern aus Unterschichten-Familien mehr als 100 PISA-Punkte. Das entspricht einem Lernfortschritt von über zwei Schuljahren.

Die Unterschiede in den Bildungs-Chancen werden in der Studie zum Teil damit zu erklären versucht, daß die Eltern in wohlhabenden Familien zumeist AkademikerInnen und Führungskräfte seien, die bereits selbst über eine bessere Bildung verfügen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, daß nur jene über die Mittel verfügen, Nachhilfe-Unterricht zu finanzieren. Über ein unterstelltes höheres Interesse des häuslichen Umfelds an Bildung hinaus, spielen auch weitere materiellen Bedingungen eine Rolle. So ist in der PISA-Studie erwähnt, daß Kinder aus der Oberschicht häufiger über ein eigenes Zimmer und einen eigenen Schreibtisch für die Hausaufgaben sowie einen PC mit Internet-Zugang verfügen.

Die Unterschiede zwischen Deutschland und anderen Industrienationen lassen sich damit jedoch nicht erklären. Auffallend ist, daß in Deutschland für Schule und Bildung relativ wenig Geld zur Verfügung gestellt wird. Ideologisch aufgeheizte Debatten um dreigliedriges Schulsystem versus Gesamtschule haben die grundlegende Misere überdeckt. In Nordrhein-Westfalen, wo die Gesamtschule von der SPD lange Zeit gefördert wurde, ist die Chancen-Ungleichheit deutlich über dem Bundesdurchschnitt.

Auffallend ist die im Vergleich geringe Dichte an Kindergärten in Deutschland und die durch Mittelstreichungen und entsprechende Änderungen der Auflagen erzwungene Größe der Gruppen in Kindergärten. So ist die vorrangige Aufgabe dieser "Vorschule" die Erzeugung von "Disziplin" und "Anpassungsfähigkeit".

Wer sich den Aufbau vom Kindergarten über Grundschule bis zu Gymnasium und Universität als nach oben hin sich verjüngende Pyramide vergegenwärtigt, wird sich daher über folgendes nicht wundern: Der Anteil von Kindern aus Unterschichten-Familien ist an den Universitäten und Hochschulen nochmals geringer als in den Oberstufen der Gymnasien.

Jahr für Jahr ist es in den offiziellen Statistiken nachzulesen, daß der Anteil der StudentInnen aus einkommensschwachen Familien drastisch schrumpft: Waren es zu Beginn der 80er Jahre noch 23 Prozent, sank ihr Anteil bis Mitte der 90er Jahre bereits auf 14 Prozent. Heute kommen nur noch rund 10 Prozent der StudentInnen aus Unterschichten-Familien.

Aus dem Viertel der Bevölkerung mit dem geringsten Verdienst kamen 1994 nur noch 18 Prozent aller Studien-AnfängerInnen. Aus dem Viertel der Familien mit dem höchsten Netto-Einkommen kamen 55 Prozent aller Erstsemester. Noch deutlicher wird das Bild, wenn sozialversicherungsrechtliche Kategorien zugrunde gelegt werden: Von 100 Arbeiterkindern haben 1993 in den alten Bundesländern nur 15 ein Hochschulstudium aufgenommen, während es im Vergleich dazu 65 von 100 Beamtenkindern waren.
Wer sich diese Entwicklung vor Augen hält - ebenso wie beispielsweise die Entwicklung des Zustandes der deutschen Wälder, die dieser Tage gerade publik wurde - weiß, welche Bilanz nach sieben Jahren "Rot-Grün" zu ziehen ist. Eine Schreckensbilanz.

Vor 10 Tagen - am 10. November - tagte einmal wieder die Kultusminister-Konferenz zusammen mit der ehemaligen baden-württembergischen Kultusministerin und jetzigen Bundesbildungsministerin Anette Schavan. Es ging um die Verteilung der Bundesmittel für den geplanten Hochschulpakt. Schon im Vorfeld war immer wieder von Exzellenz und Exklusivität zu hören. So wie "Rot-Grün" die antisoziale Bildungspolitik der "schwarz-gelben" Bundesregierung unter Kohl nahtlos fortsetzte - so wird diese Schreckenspolitik nun von "Schwarz-Rot" exekutiert.

Obwohl diesen Damen und Herren die zuvor genannten Zahlen über die soziale Schieflage an den Universitäten sehr wohl bekannt sind, bleibt das Problem in den Verhandlungen zum Hochschulpakt völlig ausgeblendet. Ungerührt halten die Landesregierungen an ihren Studiengebührenplänen fest und die Bundesregierung blockiert weiterhin den Ausbau des BAföG. Real bedeutet dies unter Einberechnung der Preissteigerungen Jahr für Jahr Sozialabbau auf Kosten der StudentInnen aus Unterschichten-Familien. Damit wird es - trotz Hochschulpakt - für diese immer schwieriger, ein Studium aufzunehmen.

Eine mögliche Einigung über die Verteilung der Bundesmittel für den Hochschulpakt sollte auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Summe von 565 Millionen Euro, die Bundesbildungsministerin Anette Schavan den Ländern bis 2010 in Aussicht stellt, viel zu gering ist. Von den Ländern soll zudem ein Beitrag in derselben Größenordnung für diesen sogenannten Hochschulpakt aufgebracht werden. Mit einer Summe von insgesamt rund 1,2 Millionen Euro kann eine Entwicklung, die den Hochschulzugang angesichts steigender Bewerberzahlen immer mehr erschwert, allenfalls ein wenig gebremst werden. An eine Steigerung des Anteils der StudentInnen an ihrem Altersjahrgang ist auf dieser Grundlage nicht zu denken. Auch an überfüllten Seminaren und schlechter Betreuung wird sich wenig ändern.

Die einzige Hoffnung besteht darin, daß sich die StudentInnen nicht wie in den vergangenen Jahrzehnten nur alle paar Jahre mal zu befristeten Protesten aufraffen, sondern daß sie ihre reale Lage erkennen und sich in eine breite soziale Bewegung einreihen. Ob hierzu neue Formen des Protests gefunden werden, wird sich zeigen.

 

Klaus Schramm

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Freiburger Frühling (16.05.05)

      Wiederaufflammende Proteste in Ba-Wü (21.06.04)

      Gegen Bildungs- und Sozialabbau
      StudentInnen-Protest weitet sich aus (12.12.03)

 

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