Diskussion zum Thema:
Parlamentarismus / Basisdemokratie / Perspektiven alternativer Politik

 

Diskussionsbeitrag (1) von Paul Tiefenbach

1.12.2000

Dieser Diskussionsbeitrag stammt aus einer mailing-Liste, in der auch über das bisher nur unvollständig vorliegende Essay von Klaus Schramm 'Parlamentarismus - systembedingt undemokratisch' diskutiert wurde. Es sind daher sicher nicht alle Bezüge nachvollziehbar. Andererseits ist es aus technischen Gründen und aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht möglich, hier die gesamte Diskussion zu dokumentieren. Es sollen aber im folgenden alle weiterführenden Beiträge - auch solche, die erst durch die Lektüre dieses Beitrags hier angeregt werden - an dieser Stelle veröffentlicht werden.

(...)
Die Frage, ob es sich bei den Ursachen der Veränderung der Grünen um "Charakterschwäche" oder um eine quasi gesetzmäßige Entwicklung handelt ist ja eng verbunden mit der Frage, ob die Grünen sich noch einmal ändern können (mit "charakterstärkeren" Repräsentanten) bzw. ob man mit einer neuen Partei einen neuen Anlauf wagen sollte. Wenn ich mir jetzt mal die historischen Erfahrungen mit idealistischen, weltanschaulich motivierten Parteien anschaue, sehe ich folgendes:
Die sozialistische Bewegung im Parlament begann ja bekanntlich um die Jahrhundertwende mit den sozial- demokratischen Parteien. Deren Veränderung, die als "Revisionismus" seinerzeit eine ganz ähnliche Debatte auslöste wie die "Realpolitisierung" der Grünen, ist bekannt. Es war für mich tatsächlich eine Art "Aha-Erlebnis" im Buch von Robert Michels detailliert nachlesen zu können, wie ähnlich selbst in Details die Entwicklung der Grünen zu Entwicklung der SPD verlief. Dem Revisionismus der Sozialdemokratie folgte der Versuch, mit den neuen kommunistischen Parteien den alten revolutionären Impuls wieder aufzunehmen. Sobald aber diese sich aus ihrer Abhängigkeit von der UdSSR lösten, die Phase des s.g. "Eurokommunismus" in den 70ern, wurden auch sie zu sozialdemokratischen Parteien. Bei Gründung der Grünen hatte man ja durchaus ein Bewusstsein dieser Problematik und wollte daher den Charakter der Alternativpartei wahren durch das Regelwerk der Basisdemokratie - ein bislang in der Parteigeschichte in dieser Gründlichkeit einmaliges Experiment. Das Ergebnis ist bekannt. Es lief so ab, wie Robert Michels 1921 vorausgesagt hatte:
"Prophylaktischer Maßnahmen gegen das Aufkommen der Oligarchie spottet die Entwicklung selbst. Wollen Gesetze der 'Herrschaft der Führer' Einhalt tun, so weichen allmählich die Gesetze, nicht die Führer."(375) Wenn ich mir nun die Entwicklung der PDS anschaue, so sehe ich auch da ganz ähnliche Entwicklungen wie bei den Grünen. Ich würde nicht so weit gehen wie Michels und von einem "ehernen Gesetz der Oligarchie" sprechen, aber doch die These wagen, dass unter den Bedingungen des westeuropäischen Kapitalismus systemoppositionelle Parteien stets im Parlament ihren weltanschaulichen Charakter aufgeben und opportunistische Züge annehmen. Ich kenne in ganz Europa in der ganzen Geschichte des Parlamentarismus kein Gegenbeispiel. Man kann meines Erachtens sagen, dass dies eine gesichert politikwissenschaftliche Erkenntnis ist. Der konservative Parteienforscher von Beyme stellt daher völlig richtig fest: "Sozialisten, Anarchisten, Christdemokraten, Bauernparteien, Kommunisten, Faschisten, Neopopulisten, ethnische und regionale Gruppen und Linkssozialisten sind im Laufe der letzten hundert Jahre in den meisten westlichen Systemen in die politische Arena getreten. Sie haben nicht selten als Bewegung begonnen, sich schließlich zur 'Partei neuen Typs' deklariert und haben am Schluss als Parteien unter anderen geendet."

Eine ganz andere Frage ist, ob man deswegen aus den Grünen austreten soll. Man kann ja die Faust in der Tasche lassen und versuchen, noch vorhandene Möglichkeiten zu nutzen. In einem Beitrag schrieb jemand, dass man ja in der Partei Kontakte zu Abgeordneten hätte und diese dann besser auf bestimmte Probleme hinweisen könnte. Wenn es kein heikles Thema ist und für den Abgeordneten nicht viel Arbeit bedeutet, wird er sich u.U. auch dafür einsetzen. Vernünftige, engagierte Leute können in allen Parteien etwas bewirken. Ich glaube aber, dass selbst für Funktionsträger die Handlungsmöglichkeiten aus verschiedenen Gründen sehr begrenzt sind. Wolfgang Filc, der als Lafontaines Experte für Devisenmärkte ins Finanzministerium wechselte und große Hoffnungen hegte, dort Politik "gestalten" zu können, stellte am Ende seiner Tätigkeit resigniert fest: "Vermutlich kann man als Hochschullehrer in der Sache mehr bewirken, als in einem Verein von Bürokraten..." Die führenden Leute im Finanzministerium seien "daran orientiert, exzellent zu verwalten, kaum daran, etwas konstruktiv zu gestalten oder gar zu verändern." Das schreibt jemand, der an höchster Stelle arbeitete und mit dem Wohlwollen des Ministers ausgestattet war und es gilt m.E. umso mehr, je weiter man sich in der Stufenleiter des Föderalismus nach unten begibt. Ich müßte länger nachdenken um auch nur irgendwelche Dinge benennen zu können, die sich in der Bremer Landespoltik mit dem Wechsel von der Ampelkoalition zur großen Koalition verändert hätten. Betritt man das Fraktionsbüro der Grünen, so werden dort immer und ständig unerhört wichtige Dinge debattiert. Nachdem nun auch noch die Medien faktisch aufgehört haben, über die langweiligen Parlamentssitzungen zu berichten, nimmt der Bürger von all dem so gut wie nichts mehr wahr.

Vor diesem Hintergrund war ich schon sehr überrascht, in einem Debattenbeitrag zu lesen, dass eine Stadträtin einer Kleinstadt ihre Tätigkeit als die eigentliche Politik ansieht, Greenpeace dagegen für einen unpolitischen Verband hält. Ich denke, es sind zwei verschiedene Arten von Politik: Arbeit in Parteien und in von Parteien beschickten staatlichen Gremien nimmt stark Züge von "politischer Verwaltung" an. Die Arbeit von Greenpeace dagegen versucht Bewusstsein zu schaffen, aufzuklären. Man kann das als "politische Pädagogik" bezeichnen. Mag jeder selbst entscheiden, was ihm mehr liegt und was er für wichtiger hält. Wer allerdings die "politische Pädagogik" als die wichtigere Sache ansieht, ist bei den Grünen fehl am Platz. M.E. sind die Grünen kein politischer Akteur mehr, der zur Aufklärung über die politischen Zusammenhänge, die Gefahren der Umwelt usw. beiträgt. Im Gegenteil, man versucht Kriege als humanitär motiviert zu verklären, obwohl jeder politisch einigermaßen Erfahrene weiß, dass dies niemals der Fall ist. Oder man versucht, einen Atomausstiegsvertrag als "unumkehrbar" dazustellen, obwohl er von jeder neuen Regierung wieder über den Haufen geworfen werden kann. Verbände wie Greenpeace, Robin Wood oder Amnesty International können unbefangen kritisieren, während Partein, die selbst in die staatliche Verwaltung integriert sind, dazu neigen, diese in Schutz zu nehmen. Auf der anderen Seite haben diese außer- parlamentarischen Verbände und Bewegungen das Problem, dass sie nur appellieren können, aber selbst nichts entscheiden. Aus genau diesem Grund wurden ja seinerzeit die Grünen gegründet: man wollte endlich mitentscheiden, nicht nur protestieren. Der Gefahr, dass man, wenn man sich in die Strukturen begibt, wo man mitentscheidet, die ursprünglichen Motive nach und nach aus dem Auge verliert, sollte durch die Basisdemokratie begegnet werden. Wenn man nun diesen Weg verwirft, so bleibt doch das ursprüngliche Problem: was tun, wenn alle Unterschriftensammlungen und Demonstrationen den gewünschten Effekt nicht erzielen? Man kommt der Lösung des Problems einen Schritt näher, wenn man den demokratischen Grundrechten, dem Demonstrations- recht, dem Wahlrecht, dem Recht, Parteien zu gründen ein weiteres hinzufügt: das Recht, über bestimmte Fragen außerhalb des Parlaments per Volksentscheid abzustimmen. Hätten Verbände, Bürgerinitiativen usw. in Deutschland das Recht, mit dem Mittel der Volksinitiative ihre Anliegen in einem Volksentscheid mit bindender Wirkung zu Abstimmung zu stellen, könnten sie den rein appellativen Charakter ihrer Politik überwinden, das Dilemma zwischen Integration und Frustration auflösen. Dies ist in der Schweiz und verschiedenen Bundesstaaten der USA bereits möglich.

Natürlich ist das Volksentscheidsrecht - wie alle demokratischen Rechte - zwiespältig. Es kann auch vom politischen Gegner genutzt werden. So wie das Recht Parteien oder Verbände zu gründen auch. Trotzdem wird niemand bestreiten, dass die Einführung dieser Grundrechte auf die Entwicklung der Demokratie erheblichen und positiven Einfluss gehabt hat. Überwiegend positiv sind auch die Erfahrungen, die in der Schweiz mit dem Volksabstimmungs- recht gemacht wurden. Es gibt inzwischen ausgearbeitete Konzepte auch in Deutschland und eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Eine Unterstützung, die dazu geführt hat, dass sich alle Parteien mit Ausnahme der CDU (auch dort gibt es Befürworter) für Volksentscheide aussprechen. Sogar in der rot/grünen Koalitionsvereinbarung heißt es: "Wir wollen die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger stärken. Dazu wollen wir auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes einführen. " Papier ist jedoch bekanntlich geduldig. Konkrete Schritte sind nicht zu sehen. M.E. ist die Linke gut beraten, dieses Thema zu einem ihrer zentralen Projekte zu machen. Die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch Elemente direkter Demokratie ist eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche oppositionelle Politik außerhalb von Parteien - aber auch für Politik oppositioneller Parteien außerhalb der Regierung.

Paul Tiefenbach

PS.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Frage "Austritt oder nicht" auch eine emotionale ist. Ich kenne vernünftige Leute reifen Alters, die mehrmals aus den Grünen aus und wieder ein und wieder ausgetreten sind. Andere treten aus, leiden schrecklich und drücken sich nach wie vor auf Mitgliederversammlungen herum. Sicherlich ist der Effekt viel schwächer als bei kommunistischen oder faschistischen Kaderparteien, aber auch die Grünen scheinen eine Art Gemeinschaft zu sein, die emotionale Sicherheit bietet, das Gefühl, den Problemen der Welt nicht allein gegenüber zu stehen. Wie in Partnerbeziehungen auch können Konflikte mit der Gemeinschaft aber ein Maß annehmen, das einen von jeder produktiven Tätigkeit abhält. Ein klarer Trennungsstrich ist oft die bessere Lösung - er hilft, den Kopf klar zu bekommen und nach einiger Zeit ist der einst unersetzbar scheinende Partner vergessen.

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