Angefangen hatte alles schon im Jahr zuvor, am 20. September 1974, mit der weltweit ersten ökologisch motivierten, grenzüberschreitend organisierten und zudem erfolgreichen Bauplatzbesetzung im elsässischen Marckolsheim1 am anderen Ufer des Rheins, in der Nähe des Kaiserstuhls. Ein deutscher Konzern, die CWM (Chemische Werke München), hatte sich die Grenzlage zu nutze machen und auf französischen Territorium ein Bleichemiewerk bauen wollen.
Noch ein Jahr zuvor, 1973, waren die Baupläne bekannt geworden. Es war eine politisch brisante Zeit am Oberrhein. Vorangegangen waren der umstrittene Baubeginn des französischen AKW Fessenheim und erste massive Bürgerproteste gegen das Badenwerk (heute: EnBW), das zunächst in Breisach (bereits im Oktober 1972: 65.000 Einsprüche) und danach erst in Wyhl den Bau eines Atomkraftwerks verfolgte. Gegen Bleichemie und Atomindustrie schlossen sich im August 1974 deutsche und französische UmweltschützerInnen zusammen und gründeten das "Internationale Komitee der 21 badisch-elsässischen Bürgerinitiativen". Über 3000 Menschen aus beiden Ländern kamen bei einem Sternmarsch im Juli 1974 zum geplanten Standort nach Wyhl.
Heute gilt Wyhl, wo sich Wirtschafts- und Staats-Macht eine unerwartete Niederlage holten, als Wiege der Anti-Atom-Bewegung. Viele, die behaupteten, schon damals dabei gewesen zu sein, blamierten sich unsäglich, wenn die den Namen des Dorfes mit einem ü statt mit langgezogenem i aussprachen. Und auch der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger2, der 1978 über eine Affäre wegen Todesurteilen zu Ende des Zweiten Weltkriegs strauchelte, blamierte sich bei der Auseinandersetzung um Wyhl. Als treuer und übereifriger Diener der Strom-Monopolisten hatte er getönt: "Wenn das Kernkraftwerk Wyhl nicht gebaut wird, gehen die Lichter aus!"
Im Rheinwald bei Wyhl fanden sich Bäuerinnen und Bauern, Menschen aus der Mittelschicht, die im Weinbau oder Handwerk ihr Auskommen hatten, Pfarrer und ein bekannter Apotheker, Hausfrauen, Studentinnen und Studenten in einer Notgemeinschaft zusammen und nahmen vor nunmehr 30 Jahren den ungleichen Kampf auf. Als am 18. Februar 1975 die Baumaschinen anrückten, besetzten Hunderte das Baugelände und stellten sich vor die Bagger. Zwei Tage später kamen die Hundertschaften der Polizei. Mit Hunden und Wasserwerfern wurde der Platz geräumt und mit Stacheldraht gesichert.
Filbinger bezeichnete die überwiegend konservativen und bodenständigen WortführerInnen der Proteste als "Extremisten und Kommunisten". Doch davon unbeeindruckt kommen am 23. Februar nach polizeilichen Angaben 28.000 Menschen zu einer Kundgebung. Der Stacheldraht-Zaun wird mit bloßen Händen überwunden und der Bauplatz erneut besetzt. Die Polizei zieht sich "unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel" zurück.
Auf dem besetzten Gelände entstanden nach indianischem Vorbild ein hölzernes Rundhaus, das "Freundschaftshaus", für Versammlungen und die "Volkshochschule Wyhler Wald". Nächtelang saßen Badener und Elsässer bei Käse und Riesling am Lagerfeuer zusammen. Sie diskutierten über die Gefahren der Atomenergie und entwickelten Konzepte für eine alternative Energieversorgung ohne Atom und eine bessere, demokratische Gesellschaft. Mit Schadensersatzforderungen, Berufsbehinderungen, Stromabschaltungen, Telefonüberwachungen und Anzeigenkampagnen wurde - vergeblich - versucht, die Bevölkerung einzuschüchtern.
Da vom örtlichen Monopolblatt, der 'Badischen Zeitung', und erst recht von Rundfunk und Fernsehen keine objektive Berichterstattung zu erwarten war, schufen sich die widerständischen BürgerInnen ihre eigenen Medien. In einem Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei sendete aus dem unübersichtlichen Kaiserstuhl mit mehreren mobile Sendern das in den ersten Jahren illegale "Radio Verte Fessenheim" - später umbenannt in "Radio Dreyeckland". Die älteste - und immer noch junge - unter den wenigen nicht-kommerziellen Radio-Stationen Deutschlands existiert bis heute.3
Die Platzbesetzung zog sich neun Monate hin und erst als die Landesregierung in ein "Stillhalteabkommen" einwilligte, zogen die BürgerInnen ab. Der Kampf um Wyhl wurde noch lange Jahre vor den Gerichten weitergeführt, wobei die Bürgerinitiativen in erster Instanz zunächst Anfang April 1977 einen Erfolg erzielen konnten. Das Freiburger Verwaltungsgericht erklärt den begonnenen Atomkraftwerksbau wegen fehlendem Berstschutz für unzulässig. Spätere Gerichtsentscheidungen machten zwar den Weg für den Bau des AKW wieder frei, doch da waren bereits die späten 80er Jahre erreicht und der noch frische Eindruck der Unfälle in Harrisburg und Tschernobyl hatten den weiteren Ausbau der Atomkraft auch in Deutschland gestoppt. So blieb dem Filbinger-Nachfolger Lothar Späth nichts anderes übrig, als die AKW-Pläne "vorläufig" zu begraben. Doch erst 1994 "verzichtete" der Energie-Konzern EnBW auf die bis dahin rechtswirksame "erste Teilerrichtungsgenehmigung" und erkannte damit seine Niederlage an.
"Nai hämmer gsait!" (Nein haben wir gesagt) war eine der Parolen des Widerstands in badischem Dialekt. Bezeichnender Weise war sie hervorgegangen aus einer elsässischen Parole: "Nai hanmer g'sait!" - auch wenn manche meinten, die originale linksrheinische Variante sei nur eine "falsche" Schreibweise der später auf Plakaten wiedergegebenen Parole. Der Spruch wurde dann auch anläßlich der 25-Jahr-Feier vor fünf Jahren in einen Gedenkstein aus Granit gemeißelt.
"Unser Ziel: Naturschutzgebiet Wyhl" lautete eine andere Parole. Heute ist das Naturschutzgebiet bei Wyhl eines der bedeutendsten in der ganzen Region. Wyhl war ein Fanal. Es folgten Bauplatzbesetzungen in Kaiseraugst in der Schweiz und in Gerstheim in Frankreich. Auch die badischen AckerbesetzerInnen gegen den Anbau von Gen-Mais in Buggingen beriefen sich zwei Jahrzehnte später noch auf die damaligen Erfahrungen. An den Standorten geplanter Atomkraftwerke, aber auch in vielen Städten, entstanden Bürgerinitiativen. Die Anti-AKW-Bewegung wurde neben der Friedensbewegung zur einer der prägenden außerparlamentarischen Oppositionsströmung in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre. Hunderttausende demonstrierten an den Bauzäunen von Brokdorf und Grohnde, in Gorleben und Wackersdorf. Wegen ihres hartnäckigen Widerstands wurden Dutzende geplante Atomkraftwerke nicht errichtet. Der Schnelle Brüter in Kalkar ging nie ans Netz, der Hochtemperaturreaktor in Hamm wurde stillgelegt, der Bau einer Plutonium-Fabrik (ephemistisch bezeichnet als: Wiederaufbereitungsanlage) konnte sowohl in Gorleben als auch in Wackersdorf verhindert werden.
So viele Menschen wie damals gehen heute nicht mehr gegen die Gefährdung durch die Atomenergie auf die Straße. Doch an den "Brennpunkten", bei den CASTOR-Transporten ins Wendland und nach Ahaus, sorgt die Anti-Atom-Bewegung mit kreativem Widerstand immer noch dafür, daß trotz sogenanntem Atom-Ausstieg der Druck nicht nachläßt und das atomare Abenteuer endlich beenden wird.
Klaus Schramm
Anmerkungen
Am 25., 26. und 27. Februar erinnern die Badisch-Elsässischen
Bürgerinitiativen mit einem umfangreichen Festprogramm an 30 Jahre
erfolgreichen Widerstand gegen das geplante AKW in Wyhl. (Infos zum Festprogramm:
www.badisch-elsaessische.net)
Demonstration und Sternfahrt gegen das AKW Fessenheim
Tour de Fessenheim 05
am 23. April
1 Siehe auch unseren Artikel
Der Widerstand begann vor 30 Jahren in Marckolsheim (18.03.04)
2 Siehe auch unseren Artikel
Ist Freiburgs "grüner" OB unerfahren?
Zur Affaire um Filbingers neunzigsten Geburtstag (30.07.03)
3 Siehe auch unseren Artikel
Radio Dreyeckland wird abgewürgt (21.03.04)