25.08.2006

Gastkommentar

Wie gefährlich
ist Brunsbüttel?

Forsmark und die deutschen Atomkraftwerke

Der Störfall im schwedischen AKW Forsmark (Betreiber Vattenfall) am 25. Juli hat bereits gemachte Erfahrungen reaktiviert: Störfälle treten auf, wenn niemand sie erwartet; sie treten in einer Art und Weise auf, die niemand vorhergesehen hat; während des Störfalls werden die Betriebsvorschriften ignoriert (manchmal war das die Rettung wie im Fall Forsmark, manchmal war das Bestandteil des Störfalls wie im Fall Tschernobyl); die Betreiber und die Aufsichtsbehörden verstehen den Störfall als Beweis für ein funktionierendes Sicherheitssystem; der Bevölkerung wird erzählt, sie wäre zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen; zusammen mit der ersten internationalen Meldung zum Störfall wird in den Nachbarländern erklärt, daß ein solcher Störfall bei ihnen niemals auftreten könne. Wie platt insbesondere diese letzte Platitude ist, erschließt sich nach kurzem Nachdenken, dennoch wurde sie bei vergleichbaren Anlässen regelmäßig zur Volksverdummung eingesetzt.

Was genau in Forsmark passiert ist, wird noch untersucht, solche Untersuchungen können Jahre, viele Jahre dauern. Die Fachleute streiten sich 20 Jahre nach Tschernobyl noch über den Ablauf der Tschernobylkatastrophe. Was wir schon jetzt wissen ist, daß mehr als 20 Minuten das Notstromsystem im AKW Forsmark nicht funktionierte, daß in dieser Zeit lebenswichtige Meßgeräte und ihre Anzeigen in der Steuerzentrale nicht arbeiteten so daß das Personal nicht die leiseste Ahnung hatte, was in ihrer Anlage vorsich ging. Jeder normale Mensch hätte die Beine in die Hand genommen und wäre schreiend davongelaufen. Der Jahrhundertsommer hätte ein jähes böses Ende genommen, wenn dieser Blindflug nur 10 Minuten länger gedauert oder wenn das Personal sich an die Betriebsvorschriften gehalten hätte. Wir sind ahnungslos hart an einer Katastrophe vorbeigeschrammt.

In den Störfall verwickelt waren nebensächlich erscheinende Wechselrichter der (deutschen) Firma AEG, die etwa 1.000mal verkauft wurden. Schon vor Jahren gab es Unbehagen mit diesem Gerät bei AEG, die Firma verlor aber die Übersicht, wer alles diese Geräte bestellt hatte und vergaß das Unbehagen. Die verantwortliche Abteilung bei AEG gibt es nicht mehr.

Von den Betreibern deutscher AKW kam überraschend schnell die bereits erwähnte Platitude - bei den deutschen AKW kann so etwas nicht passieren, an der entscheidenden Stelle würde eine andere Schaltung verwendet werden. Immerhin löst der Bundesumweltminister über seine Länderkollegen Prüfungen der deutschen AKW-Dokumentationen und der Anlagen selbst aus. Es überrascht nicht, daß die nach wenigen Tagen beim Bundesumweltminister eingehenden Stellungnahmen durchweg Entwarnung gaben. Die Bundesregierung hat beschlossen, keine deutschen AKW abzuschalten, weil die Störfallbedingungen in Forsmark nicht "eins zu eins übertragbar" wären - so wahr wie platt.

Jürgen Resch und Gerd Rosenkranz (Deutsche Umwelthilfe (DUH) e.V.) haben mit einigem Aufwand erfolgreich hinter die Kulissen geschaut. Ihnen fiel zunächst auf, daß unter den frischen Berichten über den Sicherheitszustand der deutschen AKW einer fehlte: der Bericht zum AKW Brunsbüttel. Brunsbüttel gehört Vattenfall Europe und E.on. Das AKW wurde 1976 inbetriebgenommen, es ist ein Siedewasserreaktor. Brunsbüttel gehört für Reaktorfachleute zu den gefährlichsten deutschen AKW. Seit den 80er Jahren befassen sich die Experten in den zuständigen Gremien mit der mangelhaften Sicherheitstechnik dieses Reaktors. Schlagworte der Kritik sind zu hohe Komplexität, störanfällige Umschaltvorgänge in Krisensituationen, keine durchgängige Trennung der Sicherheitsstränge, nur drei statt vier Notstromdiesel. Es ist leider symptomatisch für das Verhältnis zwischen Aufsichtsbehörden und AKW-Betreibern, daß es niemals zu bindenden Auflagen zur Anpassung der Sicherheitstechnik an den "Stand von Wissenschaft und Fortschritt" gekommen ist. Es ist schwer zu sagen, ob die Atomaufsicht inkompetent, zu sehr verfilzt mit den Betreibern war oder ob sie Angst vor den drohenden Kosten eines eventuell verlorenen Gerichtsverfahrens hatte. (Die Personalbewegungen zwischen Atomaufsicht, Bundes- und Landeseinrichtungen, die mit den AKW zu tun haben und Betreibern sollen hier nicht näher diskutiert werden, sie sind abenteuerlich.)

Die kritischen Diskussionen um die Sicherheitskultur des AKW Brunsbüttel erreichten einen überraschenden Höhepunkt im Jahr 2002. Bei Arbeiten an einem in Kanada gebauten Simulator, der zur gezielten Schulung von Reaktorpersonal gebaut worden war, zeigten sich nach einem Papier der Gesellschaft für Reaktorsicherheit gravierende "Planungsfehler in der Notstromversorgung und der Steuerung mehrerer in den Not- und Nachkühleinrichtungen". Es waren genau die technischen Bereiche mangelhaft, die in Forsmark in den jüngsten Störfall verwickelt waren. Weder die Hersteller des Reaktors, die Firma Siemens/KWU, noch die Betreiber (Vattenfall Europe und E.on Kraftwerke) und auch nicht die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden (z.B. das Kieler Ministerium für Finanzen und Energie, später das Sozialministerium) haben während der bis dahin 26-jährigen Betriebszeit diese schweren Fehler bemerkt. Schließlich mußten die Betreiber sich zu den Fehlern gegenüber der Kieler Aufsichtsbehörde äußern. Sie meldeten 6 Planungsfehler in der Steuerung bei Notstromversorgung, drei Abweichungen für Schutzfunktionen beim Notstromfall und zwei Abweichungen in der Steuerung der Not- und Nachkühlsysteme. Die Betreiber meinten - und die darin steckende Denkweise ist wieder symptomatisch - "dass in den meisten Fällen ausreichende Redundanzen zur Verfügung standen". Eine solche Darstellung wäre Grund genug, einem Würstchenbudenbesitzer die Lizenz zu entziehen. Die Reaktorsicherheitskommission tagte mehrfach zum Fall Brunsbüttel, die Einschätzungen waren niederschmetternd - trotzdem ging Brunsbüttel im Februar 2003 nach einjähriger Reparatur und Inspektion mit Zustimmung der Kieler Aufsicht wieder in Betrieb.

Der frühere Sicherheitschefingenieur von Forsmark schätzt das Sicherheitsniveau von Brunsbüttel als schlechter als das in Forsmark ein. Die heute für das AKW Brunsbüttel zuständige Kieler Sozialministerin Trauernicht ist ebenso zuständig für die Thematik der Leukämiefälle bei Kindern in der Umgebung des AKW Krümmel und des Forschungszentrums GKSS. Es wird berichtet, daß in der Schublade dieser Ministerin eine Liste mit 260 Nachrüstungsforderungen an die Betreiber des AKW Brunsbüttel liegt. Diese Liste gehört auf den Tisch und nicht in die Schublade. Es gibt keinen anderen vernünftigen Weg, als die erforderlichen Sicherheitsnachrüstungen sofort vorzunehmen oder den Reaktor umgehend stillzulegen. Ministerin Trauernicht ist uns nun schon zwei Erklärungen schuldig.

 

Sebastian Pflugbeil

Der Physiker Sebastian Pflugbeil ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz und Experte zum Thema. Als Minister sorgte der DDR-Bürgerrechtler 1990 dafür, dass sämtliche AKW auf DDR-Gebiet abgeschaltet wurden.

Nachveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von 'Publik Forum'
(aus: Nr. 16, 25.8.2006)

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel

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      Atom-Minister Gabriel läßt deutsche AKWs am Netz
      IPPNW veröffentlicht Chronologie von Notstrom-Fällen (7.08.06)

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