Forsmark und die deutschen Atomkraftwerke
Der Störfall im schwedischen AKW Forsmark (Betreiber Vattenfall) am
25. Juli hat bereits gemachte Erfahrungen reaktiviert: Störfälle treten
auf, wenn niemand sie erwartet; sie treten in einer Art und Weise auf,
die niemand vorhergesehen hat; während des Störfalls werden die
Betriebsvorschriften ignoriert (manchmal war das die Rettung wie im
Fall Forsmark, manchmal war das Bestandteil des Störfalls wie im Fall
Tschernobyl); die Betreiber und die Aufsichtsbehörden verstehen den
Störfall als Beweis für ein funktionierendes Sicherheitssystem; der
Bevölkerung wird erzählt, sie wäre zu keinem Zeitpunkt in Gefahr
gewesen; zusammen mit der ersten internationalen Meldung zum Störfall
wird in den Nachbarländern erklärt, daß ein solcher Störfall bei ihnen
niemals auftreten könne. Wie platt insbesondere diese letzte Platitude
ist, erschließt sich nach kurzem Nachdenken, dennoch wurde sie bei
vergleichbaren Anlässen regelmäßig zur Volksverdummung eingesetzt.
Was genau in Forsmark passiert ist, wird noch untersucht, solche
Untersuchungen können Jahre, viele Jahre dauern. Die Fachleute streiten
sich 20 Jahre nach Tschernobyl noch über den Ablauf der
Tschernobylkatastrophe. Was wir schon jetzt wissen ist, daß mehr als 20
Minuten das Notstromsystem im AKW Forsmark nicht funktionierte, daß in
dieser Zeit lebenswichtige Meßgeräte und ihre Anzeigen in der
Steuerzentrale nicht arbeiteten so daß das Personal nicht die leiseste
Ahnung hatte, was in ihrer Anlage vorsich ging. Jeder normale Mensch
hätte die Beine in die Hand genommen und wäre schreiend davongelaufen.
Der Jahrhundertsommer hätte ein jähes böses Ende genommen, wenn dieser
Blindflug nur 10 Minuten länger gedauert oder wenn das Personal sich an
die Betriebsvorschriften gehalten hätte. Wir sind ahnungslos hart an
einer Katastrophe vorbeigeschrammt.
In den Störfall verwickelt waren nebensächlich erscheinende
Wechselrichter der (deutschen) Firma AEG, die etwa 1.000mal verkauft
wurden. Schon vor Jahren gab es Unbehagen mit diesem Gerät bei AEG, die
Firma verlor aber die Übersicht, wer alles diese Geräte bestellt hatte
und vergaß das Unbehagen. Die verantwortliche Abteilung bei AEG gibt es
nicht mehr.
Von den Betreibern deutscher AKW kam überraschend schnell die bereits
erwähnte Platitude - bei den deutschen AKW kann so etwas nicht
passieren, an der entscheidenden Stelle würde eine andere Schaltung
verwendet werden. Immerhin löst der Bundesumweltminister über seine
Länderkollegen Prüfungen der deutschen AKW-Dokumentationen und der
Anlagen selbst aus. Es überrascht nicht, daß die nach wenigen Tagen
beim Bundesumweltminister eingehenden Stellungnahmen durchweg
Entwarnung gaben. Die Bundesregierung hat beschlossen, keine deutschen
AKW abzuschalten, weil die Störfallbedingungen in Forsmark nicht "eins
zu eins übertragbar" wären - so wahr wie platt.
Jürgen Resch und Gerd Rosenkranz (Deutsche Umwelthilfe (DUH) e.V.)
haben mit einigem Aufwand erfolgreich hinter die Kulissen geschaut.
Ihnen fiel zunächst auf, daß unter den frischen Berichten über den
Sicherheitszustand der deutschen AKW einer fehlte: der Bericht zum AKW
Brunsbüttel. Brunsbüttel gehört Vattenfall Europe und E.on. Das AKW
wurde 1976 inbetriebgenommen, es ist ein Siedewasserreaktor.
Brunsbüttel gehört für Reaktorfachleute zu den gefährlichsten deutschen
AKW. Seit den 80er Jahren befassen sich die Experten in den zuständigen
Gremien mit der mangelhaften Sicherheitstechnik dieses Reaktors.
Schlagworte der Kritik sind zu hohe Komplexität, störanfällige
Umschaltvorgänge in Krisensituationen, keine durchgängige Trennung der
Sicherheitsstränge, nur drei statt vier Notstromdiesel. Es ist leider
symptomatisch für das Verhältnis zwischen Aufsichtsbehörden und
AKW-Betreibern, daß es niemals zu bindenden Auflagen zur Anpassung der
Sicherheitstechnik an den "Stand von Wissenschaft und Fortschritt"
gekommen ist. Es ist schwer zu sagen, ob die Atomaufsicht inkompetent,
zu sehr verfilzt mit den Betreibern war oder ob sie Angst vor den
drohenden Kosten eines eventuell verlorenen Gerichtsverfahrens hatte.
(Die Personalbewegungen zwischen Atomaufsicht, Bundes- und
Landeseinrichtungen, die mit den AKW zu tun haben und Betreibern sollen
hier nicht näher diskutiert werden, sie sind abenteuerlich.)
Die
kritischen Diskussionen um die Sicherheitskultur des AKW Brunsbüttel
erreichten einen überraschenden Höhepunkt im Jahr 2002. Bei Arbeiten an
einem in Kanada gebauten Simulator, der zur gezielten Schulung von
Reaktorpersonal gebaut worden war, zeigten sich nach einem Papier der
Gesellschaft für Reaktorsicherheit gravierende "Planungsfehler in der
Notstromversorgung und der Steuerung mehrerer in den Not- und
Nachkühleinrichtungen". Es waren genau die technischen Bereiche
mangelhaft, die in Forsmark in den jüngsten Störfall verwickelt waren.
Weder die Hersteller des Reaktors, die Firma Siemens/KWU, noch die
Betreiber (Vattenfall Europe und E.on Kraftwerke) und auch nicht die
Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden (z.B. das Kieler Ministerium für
Finanzen und Energie, später das Sozialministerium) haben während der bis
dahin 26-jährigen Betriebszeit diese schweren Fehler bemerkt.
Schließlich mußten die Betreiber sich zu den Fehlern gegenüber der
Kieler Aufsichtsbehörde äußern. Sie meldeten 6 Planungsfehler in der
Steuerung bei Notstromversorgung, drei Abweichungen für
Schutzfunktionen beim Notstromfall und zwei Abweichungen in der
Steuerung der Not- und Nachkühlsysteme. Die Betreiber meinten - und die
darin steckende Denkweise ist wieder symptomatisch - "dass in den
meisten Fällen ausreichende Redundanzen zur Verfügung standen". Eine
solche Darstellung wäre Grund genug, einem Würstchenbudenbesitzer die
Lizenz zu entziehen. Die Reaktorsicherheitskommission tagte mehrfach
zum Fall Brunsbüttel, die Einschätzungen waren niederschmetternd -
trotzdem ging Brunsbüttel im Februar 2003 nach einjähriger Reparatur
und Inspektion mit Zustimmung der Kieler Aufsicht wieder in Betrieb.
Der frühere Sicherheitschefingenieur von Forsmark schätzt das
Sicherheitsniveau von Brunsbüttel als schlechter als das in Forsmark
ein. Die heute für das AKW Brunsbüttel zuständige Kieler
Sozialministerin Trauernicht ist ebenso zuständig für die Thematik der
Leukämiefälle bei Kindern in der Umgebung des AKW Krümmel und des
Forschungszentrums GKSS. Es wird berichtet, daß in der Schublade dieser
Ministerin eine Liste mit 260 Nachrüstungsforderungen an die Betreiber
des AKW Brunsbüttel liegt. Diese Liste gehört auf den Tisch und nicht
in die Schublade. Es gibt keinen anderen vernünftigen Weg, als die
erforderlichen Sicherheitsnachrüstungen sofort vorzunehmen oder den
Reaktor umgehend stillzulegen. Ministerin Trauernicht ist uns nun schon
zwei Erklärungen schuldig.
Sebastian Pflugbeil
Der Physiker Sebastian Pflugbeil ist Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Strahlenschutz und Experte zum Thema. Als Minister
sorgte der DDR-Bürgerrechtler 1990 dafür, dass sämtliche AKW auf DDR-Gebiet
abgeschaltet wurden.
Nachveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von 'Publik Forum'
(aus: Nr. 16, 25.8.2006)
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel
Schwedisches AKW 7 Minuten vor GAU
Versagte eine Komponente »Made in Germany«?
(3.08.06)
Atom-Minister Gabriel läßt deutsche AKWs am Netz
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(7.08.06)
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(10.08.06)