Von Atom-Minister Trittin als Placebo gegen AKWs verschrieben, soll sie nunmehr mit enormem Aufwand in Deutschland verteilt werden. Dabei war sie einmal - und ist es auch heute noch - nichts anderes als ein Gag: die Jod-Tablette gegen radioaktive Verseuchung.
Wohl erstmals 1980 - ein Jahr nachdem die Risiken der "zivilen" Nutzung der Atomenergie durch die Beinahe-Katastrophe in Harrisburg schlaglichtartig einer breiten Öffentlichkeit bewußt geworden war1 - wurde in Hamburg ein liebevoll gefälschter Brief der HEW (Hamburgischen Electricitäts-Werke) "an alle Haushaltungen" versendet. Darin hieß es unter anderem, die HEW biete ein "Nuklear-Schutz-Set" an - im Inhalt: zwölf Jod-Tabletten. Allen - auch der HEW - war klar, daß damit die Verharmlosung einer Reaktor-Katastrophe lächerlich gemacht werden sollte. Zudem war es sicherlich Zweck der Aktion, die Gefahr durch die in der Region um Hamburg geballt vertretenen AKWs (Brunsbüttel, Brokdorf, Unterweser, Krümmel und Stade) ins öffentliche Bewußtsein zu rücken.
In einer Pressemitteilung vom 15. Januar 2004 wurde nun vom Büro des "grünen" Landtagsabgeordneten aus Baden-Württemberg Walter Witzel in vollem Ernst verkündet, die Trittinsche Aktion sei eine "Katastrophenschutzmaßnahme". Zwar wird im Text eingeräumt: "Die Jod-Tabletten würden zwar keinen umfassenden Schutz bei einem Atomunfall geben, dienten aber dazu,..." Damit wird suggeriert, die Einnahme von Jod-Tabletten böten im Falle einer Reaktor-Katastrophe zumindest einen teilweisen Schutz. Und tatsächlich ist in der Pressemitteilung dann auch von der Verteilung der Jod-Tabletten als "Katastrophenschutzmaßnahme" die Rede.
Als wolle er damit beweisen, daß er der Atom-Mafia irgend etwas vorschreiben könne, verschrieb Pseudo-Umweltminister Trittin rund 137 Millionen Jod-Tabletten. Die Kosten für die 65 mg schweren Wunderpillen der Marke 'Lannacher' in Höhe von 2,8 Millionen Euro muß tatsächlich "die deutsche Energiewirtschaft" an den österreichischen Hersteller überweisen. Peanuts für eine Branche, die auch unter "Rot-Grün" mit jährlich mehr als 1,2 Milliarden Euro subventioniert wird.
Doch nicht nur als Placebo für einen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschobenen Atom-Ausstieg ist die Jod-Tablette gedacht, sie soll offensichtlich auch die Debatte über die Gefahr von Terror-Angriffen auf AKWs2 einschläfern. So schreibt der 'spiegel' (3/2004): "Rechtzeitig geschluckt, sollen die Tabs die Schilddrüse so mit Jod abfüllen, dass sie nach einem Kraftwerk-Crash kein Jod mehr aus der radioaktiven Wolke aufnehmen kann." Doch im Wissen, daß der 11. September 2001 im Bewußtsein der breiten Bevölkerung längst nicht mehr als akute Gefahr präsent ist und der Gedanke an einen AKW-Crash durch Terror-Flugzeuge vor den Anschlägen von Madrid längst wieder verdrängt war, stellte der 'spiegel' die Überlegung an, die Trittinsche Tablettenkur könne auch nach hinten losgehen.
Die (anonymen) "Skeptiker in Bayern und Niedersachsen" läßt der 'spiegel' fragen: "Denn wie bitte erkläre man den Menschen, dass sie ohne Tabletten im Haus 30 Jahre neben einem Kernkraftwerk leben konnten nun aber nicht mehr?" Und ein (anonymer) "bayerischer Beamter" gibt umgehend die Antwort: "Da denken doch sofort alle an Bin Laden, an Terrorkrieger und Todesflieger...". Und wer möchte schon, daß das Volk an solches denkt??? Gefahrenbewußtsein wird im 'spiegel'-Artikel (zweier männlicher Autoren) gleich an zwei Stellen mit Hysterie in Verbindung gebracht.
Als wäre damit dem Gott des schwarzen Humors noch nicht genügend gehuldigt, wird bei diesem Thema die Sorglosigkeit, mit der JournalistInnen und PolitikerInnen jeglicher Couleur über die Gefahren einer Reaktor-Katastrophe daherplaudern, auf die Spitze getrieben. Da ist eine ernsthafte Debatte im Gange, ob die Bevölkerung im Radius von 5, 10 oder 25 Kilometer um ein AKW herum mit Jod-Tabletten "versorgt" werden sollen. Und im "Ernstfall" sollen zentrale Lager - ja um Himmels willen: im AKW? oder etwa in nordwestlicher Himmelsrichtung vom AKW? - "alle Kinder, Jugendlichen und Schwangeren im Umkreis von 25 bis 100 Kilometern" mit ihrem Päckchen versorgen. Selbst für die BewohnerInnen der 25-Kilometer-Zone existiert keine einheitliche Regelung. In jedem der fünf Bundesländer, in denen AKWs plaziert sind, wird anders verfahren. Der Idiotie sind offensichtlich keine Grenzen gesetzt.
Dabei ist spätestens seit der Reaktor-Katatsrophe von Tschernobyl bekannt, daß der radioaktiven Fall-out keine Grenzen anerkennt. Auch in mehr als 1000 Kilometer Entfernung waren ganze Landstriche noch kanzerogenen Belastungen durch radioaktive Zerfallsprodukte aus dem explodierten Tschernobyl-Reaktor ausgesetzt. Die französische (damals "sozialistische") Regierung versuchte jahrelang die offizielle Version aufrecht zu erhalten, wonach die radioaktiven Wolken aus Tschernobyl ausgerechnet an der deutsch-französischen Grenze Halt gemacht hätten. Erst am 24. April 2002 wurde von offizieller Seite eine neue Karte der radioaktiven Verseuchungen durch die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl präsentiert, mit der die jahrelange Fehlinformation der französischen Bevölkerung revidiert wurde.3
Der Unsinn, Jod-Tabletten als Vorbeugung gegen Schilddrüsenkrebs in Folge einer Reaktor-Katastrophe einsetzen zu wollen, wird besonders deutlich, wenn die möglichen Nebenwirkungen für Personen über 45 Jahren betrachtet werden. Mediziner weisen darauf hin, daß das Risiko bei der Einnahme der Jod-Tabletten bei 45-jährigen größer sei als das Risiko von Schilddrüsenkrebs bei einer Reaktor-Katastrophe. Da bekannt ist, daß das Krebsrisiko bei einer Katastrophe wie Tschernobyl sich nicht allein auf Schilddrüsenkrebs beschränkt, wird jede und jeder, der noch bei Verstand ist, alles daran setzen aus der Gefahrenzone zu fliehen, statt zu Hause zu sitzen und eine beliebige (Beruhigungs-)Tablette zu schlucken.
Stattdessen erzählt der Chef des Katastrophenschutzes in Schleswig-Holstein, Helmut Preugschat, auf dessen Territorium die Hamburg-nahen AKWs Brunsbüttel, Brokdorf und Krümmel stehen, daß die Tabletten nicht zentral gelagert, sondern an die Haushalte verteilt werden müßten, weil die Menschen im "Einsatzfall" unbedingt zu Haus bleiben sollen. Was bleibt ihm auch anderes zu sagen, da er sonst eingestehen müßte, daß eine Evakuierung der Bevölkerung in einem Ballungsraum wie Hamburg selbst bei Ausblenden von Panik-Reaktionen und bei optimaler Planung nicht in der nötigen Zeit zu schaffen wäre. Die Elbbrücken wären dicht. Und selbst wenn gewaltige Flüchtlingstrecks trotz Staus, Verkehrschaos und Panik aus Hamburg herauskämen, wäre der heutige Katastrophenschutz heillos überfordert, allein die über eine Million Hanseaten in Zeltstätten unterzubringen. Gar nicht an die Versorgung mit Krankenhausbetten und Ärzten zu denken, die zunehmend aus allen Körperöffnungen blutende Menschen versorgen sollten.
Aber diese Szenarien, die aus TÜV-Gutachten schon seit rund 20 Jahre bekannt sind, und die durch Tschernobyl bestätigt wurden, werden hartnäckig verdrängt. Stattdessen orientiert sich Trittin am Vorbild Tschechiens, Frankreichs, Schwedens, der Schweiz und einiger weiterer Länder, wo bereits Jod-Tabletten als Beruhigungspillen verteilt wurden. Und da kommt zu allem Überfluß noch ein weiterer schlechter Witz zu Tage: Bereits seit 1999 ist durch Untersuchungen bekannt, daß bereits im Zeitraum von nur zwei Jahren rund 40 Prozent der Tabletten verschwunden sind - unauffindbar verlegt, geschluckt oder schlicht weggeworfen. Aber zur Beruhigung dienen sie ebenso gut wie die Bibel im Nachttisch, deren positive Wirkung bekanntlich nicht von ihrer realen Anwesenheit, sondern allein vom Glauben abhängt. Und wie es früher hieß, Religion sei Opium fürs Volk (korrekt: das Opium des Volks), sollen heute wohl die Jod-Tablette als Placebo für den Atom-Ausstieg und zugleich Beruhigungsmittel dienen.
Adriana Ascoli
Anmerkungen:
1 was in den USA zumindest zur Folge hatte, daß kein weiteres AKW mehr in Auftrag gehen konnte
2 zuletzt bei uns veröffentlicht im Artikel
'Deutsche AKWs ungesichert gegen Flugzeug-Terror' v. 17.12.2003,
worin auch auf einige ältere Artikel verwiesen wird, mit denen wir schon seit Jahren auf diese Gefahr aufmerksam machen.
3 Siehe hierzu beispielsweise 'Le Figaro' v. 10.06.2003
Über die Veröffentlichung der Karte über die radioaktive Verseuchung französischer Landstriche in Folge von Tschernobyl, wird u.a. auch in unserem Artikel
'Französische AKWs erdbebengefährdet' v. 11.06.03 berichtet.