Die Macht der Großen Vier, der Oligopole E.on, RWE, Vattenfall und EnBW, zeigt sich wieder einmal deutlich: Sie können verhindern, daß die Druckbehälter stillgelegter Atomkraftwerke auf Versprödung untersucht werden. Kürzlich berichtete das TV-Nachrichten- magazin 'Kontraste', daß auch an mindestens einem der in Betrieb befindlichen 17 deutschen Atomreaktoren seit Jahrzehnten keine ausreichende Kontrolle des Druckbehälters stattfand.
Die starken Arme der großen Vier reichen nicht nur in die Parteizentralen, sondern haben auch den TÜV im Griff. Denn dieser ist bei den bestehenden Strukturen auf deren Wohlwollen angewiesen. Als profitorientiertes Unternehmen bräche ihm ein beträchtlicher Teil des Umsatzes weg, wenn ihm der Auftrag zur Überprüfung der deutschen Atomkraftwerke entzogen würde. Der größte TÜV, der TÜV Süd ist eine Aktiengesellschaft. Bei einem Verlust des Prüfauftrags gingen ihm mehrere hundert Millionen Euro verloren. So ist kaum verwunderlich, daß in Deutschland jedes Auto vom TÜV doppelt so oft überprüft wird wie ein Atomkraftwerk.
Hinzu kommt die Tatsache, daß über zwei Drittel der Aktien der TÜV Süd AG vom Verein TÜV Süd e.V. gehalten werden. Dieser hat seinen Sitz in der Konzernzentrale und seine Mitglieder sind unter anderem die Energiekonzerne E.on, Vattenfall und EnBW.
'Kontraste' interviewte den österreichischen Werkstoffphysiker Professor Wolfgang Kromp. Er war einst ein Befürworter der Atomenergie. Als er jedoch in den 1970er Jahren die Baupläne des schließlich 1978 verhinderten AKW Zwentendorf gesehen hatte, änderte er seine Einstellung. Er erkannte das Kraftwerk als "Fehlkonstruktion". Nach seiner Erkenntnis wurde - wie heute mittlerweile immer öfter - auf Kosten der Sicherheit gespart. Doch in Deutschland wurden in den 1970er Jahren mehrere nahezu baugleiche Meiler vom Typ Siedewasserreaktor in Betrieb genommen. So ging im Juni 1976 bei Hamburg das AKW Brunsbüttel, im Dezember 1977 in Bayern das AKW Isar I, im Mai 1979 in Baden-Württemberg Block I des AKW Philippsburg und September 1983 ebenfalls bei Hamburg das AKW Krümmel ans Netz. Obwohl die Bedenken aus Österreich auch hier bekannt waren, genehmigte der TÜV als Gutachter deren Betrieb. Damals waren von den Ingenieuren Laufzeiten von 25 Jahren vorgegeben. Bekanntlich wurden in Deutschland im Gegensatz zu Nachbarländern keine befristeten Betriebsgenehmigungen erteilt. Erst mit dem sogenannten rot-grünen Atom-Ausstieg aus dem Jahr 2000 erhielten die deutschen AKW eine Bestandsgarantie.
Schon bald nach der Inbetriebnahme stellte sich heraus, daß die Reaktoren dieser Baureihe massiv überarbeitet werden mußten. Nur der Reaktordruckbehälter, der Core ("Herz") der Anlage kann konstruktionsbedingt nicht ausgetauscht werden. Dieser Behälter jedoch, der die Brennstäbe enthält, muß hohe Drücke und Temperaturen und - im Falle der Schnellabschaltung - Temperaturschocks standhalten können. Nach den Berechnungen Wolfgang Kromps ist der Reaktordruckbehälter in den alten deutschen Siedewasser-AKW zu schwach ausgelegt. Neueste Studien der Technischen Universität in Berlin bestätigen diesen Befund. Die Belastungswerte einer zentralen Schweißnaht sind alarmierend.
Besonders kritisch beurteilt Kromp eine Schweißnaht, die rund um den Druckbehälter verläuft und bei hohem Duck einer hohen Materialspannung ausgesetzt ist. Kromp vergleicht die Wirkung einer solchen wiederholten Belastung mit dem Biegen eines Drahtes, der nach einer gewissen Zahl von Wiederholungen bricht.
Vor dem Bruch einer solchen Schweißnaht entstehen kleinste Risse an besonders beanspruchten Stellen. Diese Risse können sich innerhalb kurzer Zeit gefährlich ausweiten. Das Kühlwasser entweicht unter hohem Druck, die Temperatur im Inneren des Behälters steigt und die Brennstäbe können durchschmelzen wie dies in Harrisburg und in Tschernobyl der Fall war.
Der Österreicher Kromp vertritt einen dezidierten Standpunkt zum nicht stattfindenden deutschen Atom-Ausstieg: "Das ist gerade für diese alterungsgefährdeten Baureihe völlig unzulässig. Die sollten besser heute als morgen außer Betrieb genommen werden."
In Deutschland obliegt die Aufsicht über die "Reaktorsicherheit" den Ländern. Der Bundes-Atom/Umwelt-Minister hat jedoch die Oberaufsicht und kann per Weisung eingreifen. Die zuständigen Landesminister müssen "regelmäßig" überprüfen lassen, ob der Druckbehälter durch die Belastungen Risse erhalten hat. Doch in welchen Zeitabständen dies zu erfolgen hat, ist nirgendwo festgelegt.
Bei einem Siedewassereaktor ist der Druckbehälter jedoch fast vollständig verbaut, sodaß er nicht rundum überprüft werden kann. Dem sollte laut Betreibern abgeholfen werden, indem Materialproben desselben Gußeisens aus dem der Behälter besteht, eingehängt werden. Laut Theorie würden diese demselben Neutronenbeschuß ausgesetzt wie die Behälterinnenwand, sodaß deren Versprödung am Zustand der Materialproben abgelesen werden könne. Doch diese Proben stehen nicht unter der Materialspannung, unter der die gebogene Außenwand eines Zylinders steht. Mehr noch: Mit diesen Proben kann der Zustand von Schweißnähten nicht einmal annähernd simuliert werden.
Die 'Kontraste'-Redaktion fragte beim zuständigen baden-württembergischen "Umwelt"-Ministerium wegen der Überprüfung der Schweißnähte im AKW Philippsburg I nach. Anstelle des Ministeriums antwortete der TÜV. Die Schweißnaht würde ausreichend geprüft, hießt es. Es gäbe "keinen Handlungsbedarf".
Die 'Kontraste'-Redaktion wollte es genauer wissen. Ein Interview-Termin wurde angesetzt. Doch auch hierbei ging nichts ohne den TÜV. TÜV-Mitarbeiter überwachten das Interview. Die entscheidende Instanz, die behördliche Atomaufsicht, ließ sich von ihrem Dienstleister bevormunden.
Das Interview nahm laut der Darstellung von 'Kontraste' einen grotesken Verlauf.
Oskar Grözinger, Landesatomaufsicht Baden-Württemberg: "Während des Betriebs wird der Behälter regelmäßig alle paar Jahre überprüft und zwar nach den jeweils neuesten geltenden Prüfstandards."
'Kontraste': "Dort, wo ich nicht hinkomme, kann ich nicht prüfen."
Aus dem Off: "Cut... wir haben gesagt: Keine Nachfragen!"
Die Stimme aus dem Hintergrund stammt von einem TÜV-Mitarbeiter. Er untersagt dem baden-württembergischen "Umwelt"-Ministerium die Beantwortung der Frage.
Der Werkstoffphsiker Wolfgang Kromp erklärt, daß zur Überprüfung der Schweißnähte nur eine Untersuchung von Innen belastbare Ergebnisse liefern könne. Doch dazu müßte der Druckbehälter komplett ausgeräumt und die gesamten Steuerstabmechanismen müßten ausgebaut werden. Dies wäre außerordentlich kostenintensiv. Deshalb wird es nicht gemacht. Dennoch attestiert der TÜV dem Betrieb solcher Reaktoren Unbedenklichkeit.
Nun hätte beispielsweise der Reaktordruckbehälter des am 11. Mai 2005 nach knapp 37 Jahren Betriebszeit stillgelegten AKW Obrigheim auf Versprödung untersucht werden können. Doch dies wird mit aller Macht verhindert. Auch die baden-württembergische Landesregierung zeigt hieran kein Interesse. Honni soit qui mal y pense!
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
AKW Philippsburg
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Info-Serie Atomenergie - Folge 2