10.02.2017

Todes-Serie der NSU-ZeugInnen:
Der sechste Sarg

NSU-ZeugInnen, der sechste Todesfall - Grafik: Samy - Creative-Commons-Lizenz Nicht-Kommerziell 3.0
Aus einer Medien-Mitteilung des baden-württembergischen NSU-Unter­suchungsausschusses geht hervor, daß die 46-jährige Zeugin Corinna B. am 2. Februar zu Tode kam - drei Tage nachdem der Ausschuß beschlossen hatte, sie vorzuladen. Eine Untersuchung der Todesursache wird dadurch erschwert, daß die Leiche bereits eingeäschert ist.

Immer deutlicher wird, daß mächtige Kreise alles daran setzen, die Aufklärung der als "NSU-Morde" deklarierten Mordserie von September 2009 bis April 2007 zu verhindern. Offenbar schrecken diese Kreise selbst vor Mord nicht zurück. Der NSU-Terror-Bande sind nach offizieller Darstellung zehn Menschen zum Opfer gefallen: Neun Männer mit Migrationshintergrund und die Polizistin Michele Kiesewetter. Der Tod sechs weiterer Menschen kann kein Zufall sein. Vor Corinna B. sind folgende Todesfälle zu verzeichnen: Arthur Christ, Januar 2009 - Florian Heilig, September 2013 - Thomas Richter ("Corelli"), vermutlich März 2014 - Melisa Marijanovic, März 2015 - Sascha W., Februar 2016 (Siehe unseren Artikel v. 15.02.16).

Auf Corinna B. wurde der NSU-Untersuchungsausschuß des baden-württembergischen Landtags (offizieller Titel: Untersuchungsausschuß "Rechtsterrorismus/NSU BW II" / Internet-Adresse) durch die ZeugInnen-Aussagen von Hans-Joachim S. und Barbara E.-N. aufmerksam. Merkwürdigerweise wurden die beiden, die über bedeutende Insider-Kenntnisse über die Neo-Nazi-Szene verfügen, zum ersten Mal überhaupt öffentlich befragt. Bei dem in München stattfindenden Prozeß gegen Beate Zschäpe waren sie - zumindest bisher - nicht als Zeugen geladen.

Hans-Joachim S. und Barbara E.-N. sagten am 30. Januar 2017 in Stuttgart vor dem NSU-Untersuchungs­ausschuß aus und gaben ausführlich Auskunft auf die Struktur und Vernetzung der Neo-Nazi-Szene von Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen. Die Zeugin berichtete zudem über eine Begegnung mit Uwe Mundlos im Jahr 2000 oder 2001 in Ludwigsburg - also vermutlich zu einem Zeitpunkt nach dem ersten "NSU-Mord", dem Mord an dem 38-jährigen türkischstämmigen Blumenhändler Enver S. an 9. September 2000 in Nürnberg. Der Name Corinna B. fiel bei der Befragung der beiden mehrfach. Bei dem genannten Treffen in Ludwigsburg waren demnach auch Corinna B. und Beate Zschäpe, also insgesamt vier Personen anwesend.

Corinna B., wohnhaft in Ludwigsburg, starb am 2. Februar im Alter von 46 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen. Wolfgang Drexler, Vorsitzender des baden-württembergischen NSU-Untersuchungs­ausschusses, hatte nach eigener Aussage am 7. Februar vom möglichen Tod der Zeugin erfahren und am 8. Februar eine amtliche Bestätigung erhalten. Weder über die Todesursache noch über die Todesumstände wurden Informationen veröffentlicht.

Aus einem John-Le-Carré-Thriller könnten folgende Umstände entlehnt sein, die im Zusammenhang mit dem im Verlauf des 8. Februar aufsteigenden Rauch bekannt wurden: Nach eigener Aussage rief Drexler noch am Vormittag des 8. Februar bei Innenminister Thomas Strobl und Justizminister Guido Wolf an, um "nachzufragen, ob dort etwas vom Tod der Zeugin bekannt wäre". Als dann aber gegen 10:20 Uhr weitere Informationen eingingen, daß die Einäscherung der Leiche von Corinna B. wohl im Laufe des Tages erfolgen werde, versuchte Drexler nach eigener Aussage, dies noch zu verhindern und bei den zuständigen Stellen "anzuregen", daß "dringende Maßnahmen" erforderlich seien, um "die spätere Aufklärung nicht unmöglich zu machen bzw. zu erschweren". Die Stellungnahme Drexlers endet mit dem Satz: "Leider war, wie wir später erfahren haben, wohl die Einäscherung bereits erfolgt, bevor wir uns erstmals an die Ministerien wenden konnten."

In den 1990-er-Jahren zählte Corinna B. offenbar zur Neo-Nazi-Szene in Ludwigsburg und war zeitweilig mit Hans-Joachim S. liiert. Dessen Name befand sich auf der ominösen Adress-Liste von Uwe Mundlos. Der Name von Barbara E.-N. - beziehungsweise ihr damaliger Nachname - findet sich auf dieser Liste gleich zweimal und mit zwei Telefonnummern, der privaten und der dienstlichen. Bei einer Razzia im Januar 1998 hatte ErmittlerInnen in einer Garage eine Werkstatt mit vier Rohrbomben und 1,4 Kilogramm des Sprengstoffs TNT entdeckt. Seltsamerweise wurde ein Haftbefehl erst einige Tage später ausgestellt, so daß Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Z. rechtzeitig abtauchen konnten. Bei dieser Gelegenheit fiel den ErmittlerInnen auch diese Adress-Liste in die Hände, die daraufhin 15 Jahre lang in irgendeiner Schublade verstaubte, ohne ausgewertet zu werden (Siehe hierzu unseren Artikel v. 1.03.13).

Nach dem, was in den vergangenen fünf Jahren seit dem Auffinden der beiden Toten im Wohnmobil am 4. November 2011 in einem Eisenacher Neubaugebiet, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, an Informationen an die Öffentlichkeit gelangte, kamen vor allem Mundlos und Zschäpe ab Mitte der 1990er-Jahre und Anfangs der 2000er-Jahre regelmäßig zu Neo-Nazi-Treffen nach Ludwigsburg. Auch Corinna B. soll mehrfach bei solchen Treffen dabei gewesen sein, so etwa 1996 bei einem gemeinsamen Besuch einer Szene-Gaststätte in Ludwigsburg zusammen mit Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos.

Neo-Nazis aus dem Raum Ludwigsburg standen ihrerseits in regem Kontakt mit der Neo-Nazi-Szene in Jena und Chemnitz. Corinna B. soll Ende der 1990er-Jahre, Anfangs der 200er-Jahre mit einem aus Thüringen stammenden und in Baden-Württemberg wohnhaften Neo-Nazi liiert gewesen sein. Es handelt sich hierbei um den Mitveranstalter zahlreicher Konzerte von Neo-Nazi-Bands, die damals häufig als Geburtstagsfeiern ausgegeben wurden. Zu diesen Konzerten, bei denen auch 'Noie Werte', eine der ältesten und bekanntesten deutschen Rechtsrock-Bands, und Skinhead-Bands auftraten, kamen BesucherInnen aus dem gesamten Bundesgebiet.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      NSU-Akten vorsätzlich geschreddert
      Risikoloses Geständnis eines BfV-Agenten (1.10.16)

      Fakten contra Theorie
      Wie starben Mundlos und Böhnhardt? (20.02.16)

      Todes-Serie der NSU-ZeugInnen
      Der fünfte Sarg (15.02.16)

      Toter NSU-Zeuge ermordet?
      Fahrlehrer sah zweiten Mann (13.04.15)

      NSU-Zeugin tot
      Jetzt sind es drei (30.03.15)

      NSU-DVD von 2005 aufgetaucht
      Geheimdienste angeblich ahnungslos (1.10.14)

      Thüringer NSU-Ausschuß
      Neo-Nazi-Verbindungen im Fall Kiesewetter (10.03.14)

      Fahndung nach Neo-Nazi-Terror-Bande
      im Juni 2003 abgeblockt
      "Kriegen Sie da nichts raus!" (10.12.13)

      NSU-Zeuge im Auto verbrannt
      Wurde Florian Heilig ermordet? (12.10.13)

      Gehörten V-Leute zu NSU?
      Geheime Liste mit 129 Personen (24.03.13)

      Brisante NSU-Listen mit Kontakt-Daten
      15 Jahre lang verschwunden (1.03.13)

      Experte Hajo Funke:
      NSU bestand aus mehr als 3 Personen (25.01.13)

      NSU und Behörden
      Schlamperei oder Beihilfe zum Terror? (4.08.12)

      Polizei und Ku-Klux-Klan
      Kollegen von Kiesewetter waren Mitglied (31.07.12)

      4. November 2011: Wer versuchte
      Beate Z. anzurufen?
      Telefon-Nummer aus dem
      Sächsische Staatsministerium des Innern (30.05.12)

      Neue Hinweise auf staatliche Beihilfe
      für Neonazi-Terrorbande (12.02.12)

      Standen staatliche Organe
      hinter der Neonazi-Terrorbande NSU? (30.01.12)

      Neonazi-Terrorbande
      Beate Z. wurde 2007 polizeilich vernommen (29.01.12)

      Neonazi-Terrorbande
      "Verfassungsschutz" war detailliert informiert (31.12.11)

      Weitere Hinweise auf Terror-Beihilfe:
      Kontakt im Jahr 1999 (22.12.11)

      Weitere Hinweise auf Terror-Beihilfe
      durch Staatsorgane (20.12.11)

      Wie kam die Neonazi-Terrorbande
      zu gefälschten Pässen? (18.12.11)

      Neonazi-Terrorbande
      Die Spur führ nach Ludwigshafen (17.12.11)

      Bericht eines US-Geheimdienstes:
      Deutsche Agenten in Mord an Polizistin verwickelt (30.11.11)

      Neonazi-Zelle für versuchten
      Terror-Anschlag 1997 verantwortlich?
      Viele Hinweise auf Geheimdienst-Verwicklung (20.11.11)

      Festnahme der Neonazi-Zelle 1999 gestoppt
      Befehl von "oben" (18.11.11)

      V-Mann "Kleiner Adolf"
      war in Kassel bei Mord zugegen (15.11.11)

      Neonazi-Terroristen
      Pässe vom Geheimdienst? (13.11.11)

 

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