Laut Welthungerbericht der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, ist die Zahl der Hungernden weltweit im Jahr 2003 auf 840 Millionen gestiegen1. Nach wie vor sind zwei Drittel davon Kinder unter 5 Jahren. Es gibt wohl keinen deutlicheren Beweis dafür, daß Kapitalismus nicht funktioniert, als die angebliche Unfähigkeit, dieses Schandmal der menschlichen Zivilisation endgültig zu beseitigen - oder genauer gesagt: die zwangsläufige Notwenigkeit, mit der er dieses Elend produziert.
Nach wie vor leben die meisten der Hungernden auch heute in Afrika, zunehmend jedoch auch in Lateinamerika und den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Aber je mehr sich die Krise des Kapitalismus zuspitzt, desto mehr Menschen hungern auch in den reichen Industrieländern. Ebenso wie die Vermögen der 587 Multi-Milliardäre dieser Welt2 hat auch die Zahl der Hungernden in den Industrieländern enorme Zuwächse - sie liegt inzwischen laut FAO bei zehn Millionen.
Dabei könnte das Problem des Hungers entgegen allen Falschmeldungen gekaufter Schreiberlinge heute noch gelöst werden. Es ist kein Problem der Überbevölkerung. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wo Hunger und Elend herrscht, bleiben Ansätze zur Geburtenkontrolle in der Regel erfolglos. Weltweit werden genügend Nahrungsmittel produziert - rein rechnerisch. Es handelt sich in Wahrheit um ein Verteilungsproblem und zudem ein Problem mangelnder menschengerechter Planung.
Dr. Tewolde Egziabher von der äthiopischen Umweltschutz- behörde erklärt beispielsweise, wie verhindert wurde, daß Äthiopien sich selbst mit Nahrungsmitteln versorgen kann. Die westlichen Regierungen, der IWF (Internationale Währungsfond) und die Weltbank hatten darauf bestanden, daß die äthiopische Lebensmittelversorgung durch den privaten Sektor kontrolliert wird. Dadurch wurde verhindert, daß die Regierung oder humanitäre Organisationen Getreidespeicher bauen und Nahrungsmitteldepots anlegen konnten, um darin Vorräte anzulegen. Das Ergebnis war, daß Äthiopien, das in den letzten drei Jahren Rekordernten zu verzeichnen hatte, erneut vor einer Hungersnot steht.
Der Betrag, mit dem der gesamte Weltbedarf an Nahrungsmitteln und Medikamenten gedeckt werden könnte, wird von der FAO auf etwa dreizehn Milliarden Dollar geschätzt - weniger als ein Prozent des Privatvermögens der 587 Multi-Milliardäre. 1992 hatten die Vereinten Nationen in ihrem Millenium-Entwicklungsbericht das Ziel verkündet, die Zahl der weltweit Hungernden bis 2015 zu halbieren. Doch entgegen allen Anstrengungen der FAO, die allerdings niemals die ökonomische Grundlage der Industriestaaten in Frage zu stellen wagte, stieg die Zahl der Hungernden weiter an. Die verbesserte Ernährungslage in einigen Ländern wurde durch die Zerstörungen in anderen mehr aus ausgeglichen.
Der FAO-Bericht macht insbesondere auf den Anstieg der Zahl der Hungernden in den "Schwellenländern" aufmerksam. Gerade im Hinblick auf die "Segnungen der freien Marktwirtschaft" ist FAO-Erhebung zur Entwicklung in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawiens äußerst aufschlußreich. Von 1993 bis 1995 betrug die Zahl der Hungernden dort 25 Millionen und stieg von 1999 bis 2001 auf 34 Millionen an. Der größte Teil von ihnen lebt in den GUS-Staaten (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten), in denen heute 29 Millionen Menschen oder 10 Prozent der Bevölkerung als chronisch unter Hunger leidend eingestuft werden. In diesen Ländern, so heißt es im FAO-Bericht, "war die Umwandlung der Wirtschaft von weitreichenden politischen und verwaltungsmäßigen Veränderungen begleitet, die die Handels- und Verteilungsverhältnisse zerstört und zu ernsten Mangelsituationen im Außenhandel geführt haben. Dazu kam der Zusammenbruch von landwirtschaftlicher Produktion und Vermarktungssystemen."
Die These des Neoliberalsimus, die "Kräfte des freien Marktes" würden nach dem Zusammenbruch des Ostblocks weltweit die Probleme zum Wohle aller lösen, ist inzwischen von der realen Entwicklung aufs bitterste widerlegt. Die Formulierungen, die Jacques Diouf, Generaldirektor der FAO im Vorwort zum Bericht wählt, sind da noch reichlich diplomatisch: "Wenn die jüngsten Daten zeigen, daß wir die Faktoren verstehen, die die Versorgung mit Nahrungsmitteln sichern können, dann konfrontieren sie uns zugleich mit einer weiteren schwierigen Frage: Wenn wir die grundlegenden Parameter dessen, was getan werden muß, schon kennen, warum haben wir dann zugelassen, daß Hunderte von Millionen Menschen hungrig sind in einer Welt, die in der Lage ist, mehr als genug Nahrungsmittel für jede Frau, jeden Mann und jedes Kind zu produzieren? Offen gesagt, das Problem ist nicht so sehr der Mangel an Nahrungsmitteln, sondern der Mangel an politischem Willen."
Doch neben den "normalen" Folgen des Kapitalismus, der damit verbundenen immer rücksichtsloseren Orientierung der Wirtschaft am Profit und dessen sich verschärfenden Krise, kann eine weitere - ebenfalls durch den Kapitalismus bedingte - Entwicklung die Zahl der Hungernden noch schneller in die Höhe treiben: die Klimakatastrophe. Ihre Vorboten lassen schon heute die Zusammenhänge erkennen3 und ohne eine rasche und radikale Wende zu einer demokratischen Weltökonomie werden die Probleme ins uferlose anwachsen.
Auf der letztjährigen Klimakonferenz in Mailand4 und bereits im Kyoto-Protokoll (1997) stellten
UN-Organisationen fest, daß in Folge der Klimaveränderungen jährlich 150 Millionen Menschen sterben. Dürre hat große Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Der FAO-Bericht erklärt, daß sie für 60 Prozent aller Nahrungsmittelnotlagen verantwortlich ist. Afrika ist nach Australien der trockenste Kontinent, andere Länder sind von unregelmäßigen Regenfällen betroffen. In Indien fallen 70 Prozent aller Niederschläge in der kurzen, dreimonatigen Monsunperiode. Im Bericht wird die Bedeutung der Vorsorge durch Bewässerung betont: Er führt aus, daß nur 17 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche bewässert, daß aber auf dieser Fläche 40 Prozent aller Nahrungsmittel der Welt erzeugt werden.
Durch die Auswirkungen der Klimakatastrophe verkürzen sich weltweit die Zeiten, in denen Nahrungsmittel angebaut werden können, was zur Unterernährung beiträgt. Die Beratungs- gruppe für internationale agrarwissenschaftliche Forschung CGIAR (Consultive Group on International Agricultural Research) hielt im November 2003 in Nairobi eine Konferenz mit dem Titel "Herausforderung Wasser und Nahrungsmittel" ab. An der Konferenz nahmen WissenschaftlerInen, PolitikerInnen und Mitglieder von Nichtregierungs- organisationen (NGOs) teil, die das Problem von Wasser und Nahrungsmittelproduktion diskutierten. In einer zu Beginn der Konferenz vorgelegten Presseerklärung heißt es: "Die Region (südlich der Sahara in Afrika) wird infolge der unzureichenden Wasserversorgung einen Ernteausfall von 23 Prozent haben und die Getreideimporte müssen innerhalb der nächsten 23 Jahre auf 35 Millionen Tonnen verdreifacht werden, um mit der Nachfrage Schritt zu halten. Unter diesen Bedingungen werden viele ärmere afrikanische Länder unfähig sein, die erforderlichen Lebensmittelimporte zu finanzieren. Das würde dazu führen, daß Hunger und Unterernährung und die Abhängigkeit von internationalen Finanzhilfen für die Hungerhilfe zunehmen." Die Erklärung zitiert den Vorsitzenden des Konsortiums "Herausforderung Wasser und Nahrungsmittel" Professor Frank Rijsberman: "Wenn sich die gegenwärtige Entwicklung fortsetzt, dann wird das Leben eines Drittels der Weltbevölkerung 2005 durch den Wassermangel beeinträchtigt. Wir können dann mit Verlusten in Höhe der gesamten Menge des in Indien und der USA erzeugten Getreides konfrontiert sein."
Adriana Ascoli
Anmerkungen:
1 Siehe auch unseren Artikel
'Hunger' v. 30.07.03
2 Siehe auch unseren Artikel
'Profite, Pleiten und Sozialabbau' v. 27.03.04
3 Siehe auch unseren Artikel
'Dürre in der Sahel-Zone als Folge des Klimawandels?'
v. 13.10.03
4 Siehe auch unseren Artikel
'EU weiter Richtung Klimakatastrophe'
Deutschland schlechtes Mittelfeld
Ergebnisse der 9. UN-Klimakonferenz in Mailand (v. 7.12.03)