18.06.2004

Artikel

Künast mißbraucht
dicke Kinder

Die neue Kampagne dient nur der Eigenwerbung und der Industrie

"Die Regierung scheut die harte Auseinandersetzung mit der Industrie. Statt Hersteller, Handel und Werbewirtschaft zu echter Produktverantwortung zu zwingen, versetzt das Haus Künast die Industrie in die komfortable Lage, nur unverbindliche Zusagen machen zu müssen." Anstatt eine "Alibi-Politik mit regierungsamtlichem Stempel" zu betreiben, sei es wichtig darüber zu debattieren, "wie gesunde Ernährung aussehen müsse und wie diese verbreitet werden müsse", kritisierte Matthias Wolfschmidt von 'Foodwatch' die neue Kampagne von Verbraucher-"schutz"-ministerin Künast, mit der diese vorgeblich und in Eintracht mit der Lebensmittelindustrie gegen das weitverbreitete Übergewicht der heutigen Kinder und Jugendlichen angehen will.

Was sind die Ursachen des Problems und wäre diesem überhaupt mit "pädagogischen" oder aufklärerischen Mitteln beizukommen? Rund 20 Prozent aller Kinder (über 30 Prozent aller Jugendlichen) in Deutschland ist übergewichtig. Die USA ist Deutschland auch in Hinsicht Fettleibigkeit - die Statistiken bestätigen in diesem Fall die bekannten Klischees - um Jahre voraus, aber der massive Sozialabbau bewirkt hierzulande eine bizarre Aufholjagd. In Discountern wie Aldi oder Lidl, wo billig eingekauft wird und wo schnell sättigende, stärkehaltige Nahrungsmittel (Kartoffelprodukte), Fettlastiges, stark gezuckerte Limonaden und am Fließband vor der Kasse "unwiderstehliche" und "preisgünstige" Süßigkeiten locken, kaufen überwiegend die unteren sozialen Schichten ein. Und aus einer vor einem knappen Jahr veröffentlichten Berliner Studie geht klar hervor: Je weiter unten die soziale Schicht, aus der die Kinder stammen, desto höher die Rate der Übergewichtigen. Und unter den türkischen Kindern zeigt sich dies besonders extrem wie die Studie mit Zahlen eindeutig belegt.

Übergewicht führt für die betroffenen Kinder und Jugendlichen oft genug zusätzlich zur körperlichen Behinderung zu großen psychischen Problemen. Sie werden ausgestoßen und gehänselt und können in Mitten der allgegenwärtigen "fit for fun"-Mentalität kaum ein gefestigtes Selbstvertrauen entwickeln. Hinzu kommen gesteigerte Krankheitsrisiken. Bluthochdruck, Herzinfarkt, Diabetes und Überbelasung der Knochen korrelieren in hohem Maß mit Übergewicht. Immer mehr Kinder leiden beispielsweise an Krankheiten, die noch vor Jahren nur bei alten Menschen bekannt waren: Eine Studie der Berliner Charité brachte zu Tage, daß auffallend viele Kinder an Diabetes Typ 2 erkranken. Der heutige Sozialabbau kann bereits in wenigen Jahren dazu führen, daß die Kosten des Gesundheitssystems tatsächlich - nicht lediglich wie häufig propagandistisch behauptet - über das Maß der durchschnittlichen Preissteigerung hinaus ansteigen und ein Vielfaches der heute gekürzten Finanzmittel verschlingen werden. Schon heute betragen die durch falsche Ernährung bedingten Kosten mehr als 70 Milliarden Euro pro Jahr.

2,5 Milliarden Euro pro Jahr gibt die Ernährungsindustrie für Werbung aus. Davon entfällt laut 'Foodwatch' rund ein Viertel allein auf Süßwaren. Als besonders krasses Beispiel prangert 'Foodwatch' die bekannte "Kinder-Milchschnitte" an: "Ein neunjähriges Kind müßte, um seinen Tagesbedarf an Kalzium zu decken, 17 Milchschnitten essen und würde damit gleichzeitig 40 Stück Würfelzucker und ein halbes Paket Butter zu sich nehmen." Dabei mit einer "Extraportion Milch" geworben, während aber tatsächlich meist Milchpulver, Butterreinfett oder gezuckerte Kondensmilch verwendet werde. Wieviel Zucker die Schnitte enthalte, sei dem Etikett nicht zu entnehmen, da nur summarisch "Kohlenhydrate" deklariert werden.

Solange also dem unteren Drittel der Gesellschaft unter aktiver Beihilfe von Frau Künast immer mehr Geld weggenommen wird, die vor vier Jahren versprochene Agrar-Wende weiter blockiert2 wird und eine Umstellung auf gesunde und biologisch erzeugte Lebensmittel durch versteckte Subventionen (eine Durchschnittsfamilie in Deutschland zahlt zur Zeit rund 600 Euro pro Jahr an Steuergeldern allein für die Subventionierung der Landwirtschaft), irrwitzigen Transport von Lebensmitteln und Tieren quer durch Europa und die Vernichtung riesiger Überschüsse an Lebensmitteln zur Regulierung der Preise unter Weltmarktniveau betrieben wird (, um so den heuchlerisch propagierten freien Welthandel zu unterlaufen), wird sich am Elend der Kinder nichts ändern. Im Gegenteil, die Probleme werden sich weiter verschärfen.

Erst wenn die Grundlagen für eine gesunde Ernährung geschaffen wären, könnte eine Regierung mit Aussicht auf Erfolg daran gehen, mit Aufklärung und ausdauernder Ernährungsberatung - statt mit einer "Plattform Bewegung und Ernährung" - das über Jahrzehnte fehlgesteuerte Ernährungsverhalten zu beeinflussen. Eine flächendeckende und kostenlose Gesundheitsberatung müßte ambulanten Dienste und wochenlange Betreuung Adipositas-gefährdeter Familien umfassen. Und statt nur über mehr Bewegung zu reden, müßte den Schulen genügend finanzielle Mittel gelassen werden, damit nicht ausgerechnet der Schulsport im Stundenplan zusammengestrichen wird. So gab der DLRG dieser Tage bekannt, daß infolge der Kürzungen in vielen Schulen heute weniger als 75 Prozent der Deutschen schwimmen können, während dies vor nur zehn Jahren noch rund 90 Prozent waren.

Allein der Opposition ist noch nicht aufgegangen, daß "Rot-Grün" eine perfekte Industrie-Politik betreibt, die Dank rot-grünem Tarnanstrich weit effektiver ist als jene vor 1998 ("Wir werden nicht alles anders machen, aber besser"). So delirierte die F.D.P., Künasts Propaganda-Vorstoß sei eine "Gängelung der Bürger" und die CDU-Abgeordnete Julia Klöckner wähnte gar eine "Ernährungsdiktatur". Entweder der Opposition ging mit Kohls schwarzen Konten auch jeglichen Draht zur Wirtschaft verloren und sie ist völlig ahnungslos oder das Ganze ist ein abgekartetes Spiel (wie jenes am 22.03.2002 im Bundesrat), um "Rot-Grün" mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen...

 

Frank Bayer

 

Anmerkung:

1 Siehe auch unseren Artikel
    'Deutsche Kinder werden immer fetter' v. 8.07.03

2 Siehe auch unseren Artikel
    'Agrar-Wende - Nichts als heiße Luft' v. 24.01.04

 

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