Aktuelle Befunde am Krankenbett
Ein erworbenes Immunschwäche-Syndrom (englisch: acquired immune deficiency syndrome) diagnostiziert die Umweltstiftung WWF beim deutschen Wald. Und geradezu akrobatisch mutet es an, wie er inzwischen mehr als 20 Jahre die Balance in einem Zustand zwischen Leben und Sterben hält. Impertinenz schließlich mag ihm die zuständige Ministerin Renate Künast zuschreiben, die doch im Juli 2003 die frohe Botschaft verkündet hatte, sie sei im fünften Regierungsjahr von Rot-Grün "auf dem besten Wege das Waldsterben zu besiegen".
Tatsächlich hat sich nicht das geringste gebessert. Wie schon ihre "schwarze" Vorgängerin im Umweltministerium, Angela Merkel, mußte Renate Künast im "Waldschadensbericht" - letztes Jahr erst im Dezember veröffentlicht - bestätigen, daß nach wie vor rund 70 Prozent aller Waldbäume äußerlich erkennbare Schäden aufweisen. Innerhalb der seit Jahren eingepegelten Grenzen war sogar eine Zunahme der Krankheitssymptome um vier Prozent zu verzeichnen. Das einzige, was eine weitere Verschlechterung wieder einmal aufgehalten hat, war die für den Wald günstige Witterung der letzten Monate. Regen, Wind und Kälte ermöglichten dem Wald eine gewisse Erholung vom heißen Rekordsommer des letzten Jahres. Denn dem Wald tut feuchte Witterung gut. Die Niederschlagsmengen reichen nach Ansicht von Fortwissenschaftlern allerdings nicht aus, um die Schäden auszugleichen, die im vergangenen Jahr durch extrem lang anhaltende Hitze und Trockenheit in den deutschen Wäldern entstanden waren.
Zudem hätte eine längere Hitzeperiode in Mai und Juni genügt, um eine Borkenkäfer-Plage in nie zuvor gekannten Ausmaßen auszulösen. Die Käfer hatten im Larvenstadium gewissermaßen schon in den Startlöchern gesessen. In Folge von jahrelangem Dauerstreß durch einen stets neu gemixten Cocktail von Luftschadstoffen, saurem Regen und Ammoniak-Eintrag aus der Landwirtschaft ist der Wald so geschwächt, daß eine Hitzeperiode fatale Auswirkungen haben muß. Vorgeschädigte Bäume können bei geringen Niederschlagsmengen wegen der erschwerten Aufnahme von Nährstoffen dem Befall durch Schadinsekten kaum mehr etwas entgegensetzen. "Wir können leider keine Entwarnung für die Wälder in Deutschland geben. Das Ökosystem Wald hat sich von den Strapazen des letzten Sommers immer noch nicht erholt," erklärt WWF-Forstexpertin Nina Griesshammer.
"Ein stabiler, gesunder Wald kann auch lange Trockenperioden weitgehend schadlos überstehen", ergänzt Rudolf Fenner, Waldreferent von 'Robin Wood'. "Erst wenn die Baumwurzeln durch den Sauren Regen geschädigt sind und das schüttere Kronendach die Waldböden schneller austrocknen läßt, gerät das Ökosystem sehr schnell in eine Streß-Situation, in der die Bäume sichtbar leiden oder auch absterben." Ammoniakausdünstungen aus der Landwirtschaft und Stickoxidabgase aus dem Straßenverkehr machen dem Wald am meisten zu schaffen. Solange die auf dem Höhepunkt der BSE-Krise versprochene Agrar-Wende im Verkündungsstadium stecken bleibt und die Verkehrs-Wende ohne öffentlichen Widerspruch von Renate Künast von prominenten Grünen als "Schnee von gestern" bezeichnet werden kann, besteht kein Anlaß für Frohbotschaften.
Klaus Schramm
Anmerkungen:
Siehe auch unsere Artikel
'Auch "Rot-Grün" kann nicht länger leugnen:
Dem Wald geht's immer schlechter' (12.12.03)
'Waldsterben trotzt Künast' (23.10.03)
'Waldsterben virulent' (29.08.03)
'Künast zum Haartest ?' (15.07.03)