28.02.2008

Bundesverfassungsgericht
präsentiert
größte Mogelpackung
aller Zeiten:

Das virtuelle Grundrecht

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat wie erwartet das Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalens für nichtig erklärt, die juristischen Hürden für die vom Bundesinnenministerium gewünschten "Online-Durchsuchungen" anscheinend äußerst hoch gelegt und zugleich ein neues Grundrecht aus dem roten Häubchen gezaubert. Wie ebenfalls zu erwarten war, hat das Bundesverfassungsgericht die heimliche Durchsuchung von privat genutzten Computern nicht generell verboten. Dem 2004 mit dem Urteil zum "Großen Lauschangriff" erhobenen Anspruch, die Unantastbarkeit der Menschenwürde schützen zu wollen, wurde das höchste deutsche Gericht mit seinem gestrigen Urteil nicht gerecht.

Wie selten zuvor bei einem Bundesverfassungsgerichts-Urteil ist die Begründung so clever formuliert, daß sich sowohl Pro- wie Contra-Seite als Sieger feiern können. Entgegen übereilten Interpretationen aus den Reihen der politischen Linken wird sich Innenminister Wolfgang Schäuble nicht etwa klammheimlich vor Wut irgendwo hinein beißen, sondern - Dank juristischem Fachpersonal - längst wissen, daß er mit diesem Bundesverfassungsgerichts-Urteil all seine Pläne nun umsetzen kann. Daß er diese leicht modifizieren und ein wenig tarnen muß, wird ihn kaum stören.

Auf den ersten Blick scheint es so, als sei die heimliche Infiltration eines privaten Computers mit dem "Bundes-Trojaner" auf jene Fälle beschränkt, bei denen eine konkrete Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut besteht. Bedeutsam sind jedoch nicht die als "candies" formulierten Passagen des Urteils, sondern jene am Schluß, die die "Ausnahmen" regeln. Im Vergleich zur bisherigen Bundesverfassungsgerichts-Rechtsprechung wird der "Kernbereichsschutz" aufgeweicht. De jure (nicht: de facto) mußten bislang Mikrofone ausgeschaltet werden, sobald Verdächtige zu beten begannen oder über Sex redeten. In der Praxis war dies nicht möglich und angeblich wurden dann die entsprechenden Tonbandaufnahmen nachträglich gelöscht. Da das Bundesverfassungsgericht nun meinte, feststellen zu müssen, daß dieselben Regeln auch für den Umgang mit dem Computer gelten sollen, wird die Kontrolle polizeilicher Maßnahmen vollends obsolet. Einer Datei ist nicht anzusehen, ob sie ausgelesen wurde oder nicht.

So einfach allerdings wie es sich Schäuble machen wollte, läßt es das Bundesverfassungsgericht nun doch nicht zu. Nach den Plänen des Bundesinnenministeriums sollte die Software des "Bunds-Trojaners" angeblich automatisch dafür sorgen, daß die Privatsphäre ausreichend geschützt bliebe. Dies war allzu offensichtlicher Humbug. So kann der Text des Bundesverfassungsgerichts-Urteils die Fan-Gemeinde mit einigen fachspezifischen Kenntnissen beeindrucken, die sich so das Vertrauen in die Sorgfalt der Verfassungshüter bewahren darf. Völlig korrekt heißt es etwa im Urteil, bei einem heimlichen Zugriff auf einen Computer sei es "praktisch unvermeidbar", auch an Daten zu gelangen, die die Ermittler weder zur Kenntnis nehmen noch verwerten dürfen.

Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis jedoch wird nun nicht etwa der Zugriff untersagt, sondern es werden Hürden formuliert. Zunächst: Es müsse eine konkrete Gefahr vorliegen, die ein "überragend wichtiges Rechtsgut" bedroht. Weiter: Wie bei der Telefon-Überwachung müsse jede einzelne heimliche "Online-Durchsuchung" zuvor richterlich genehmigt werden. Doch wenn der Innenminister von Terror-Angriffen fabuliert, ist allemal ein "überragend wichtiges Rechtsgut" bedroht - auch wenn er die Beweise für seine Behauptungen wegen "Zeugenschutz" und ähnlichem nicht vorlegen muß. Die zunächst knallhart anmutende Formulierung von "überragend wichtigen Rechtsgütern" wird zudem im Bundesverfassungsgerichts-Urteil zwei Sätze weiter aufgeweicht. Dort heißt es: "Die Maßnahme kann schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen."

Und wieviel Wert der "Richtervorbehalt" noch hat, läßt sich an den nicht erst seit 2001 explosionsartig ansteigenden Zahlen der Telefonüberwachungen ablesen.1

Wie die Machtverhältnisse in diesem Staate inzwischen verteilt sind und wieviel Respekt dem Bundesverfassungsgericht noch gezollt wird, ist anhand der Frage ersichtlich, ob in der Bundesrepublik Deutschland bereits "Online-Durchsuchungen" stattfanden.2

Von unfreiwilliger Komik ist folgender Abschnitt aus einem Artikel der gestrigen Ausgabe der Internet-Zeitung 'telepolis':

"Das höchste deutsche Gericht (...) räumt auch gleich mit einigen urbanen Legenden auf. Hat es schon eine 'Online-Durchsuchung' privater Rechner gegeben? Es sei nichts über die Technik der bisherigen 'Online-Durchsuchungen' und über deren Erfolge bekannt. Die Präsidenten des BKA und des Verfassungsschutzes hatten keine Aussagegenehmigung."3

Hieraus soll die Leserschaft nun also schließen, daß es sich bei Informationen über "Online-Durchsuchungen" privater Rechner seit dem Jahr 2005 - also unter "Rot-Grün" - lediglich um "urbane Legenden" gehandelt habe?

Wenig verwunderlich ist es da auch, wenn der Autor des 'telepolis'-Artikels, Burkhard Schröder, mutmaßt, die juristischen Hürden für "Online-Durchsuchungen" seien mit dem vorliegenden Bundesverfassungsgerichts-Urteil nun "fast unüberwindbar hoch." Völlig abstrus wird es, wenn in der - immer noch von vielen als links angesehenen - 'taz' im Sinne Schäubles kommentiert wird, das Bundesverfassungsgericht sei mit diesem Urteil zu weit gegangen.

Ein weiteres Problem neben der Kontrolle der Kontrolleure, das vom Bundesverfassungsgericht durchaus gesehen, aber in der Konsequenz ignoriert wurde, stellt die Frage nach dem Beweiswert der ermittelten Daten dar. Folgendes Szenario mag ein Schlaglicht auf dieses Problem werfen: Der PC eines Verdächtigen wird sowohl von Geheimdienst A als auch von Geheimdienst B unabhängig voreinander per Spähprogramm ("spy ware") observiert. Geheimdienst A bemerkt das Spähprogramm von Geheimdienst B und plaziert belastendes Material auf den PC des Verdächtigen, das von Geheimdienst B aufgefunden und als Beweismittel erhoben wird. Im Urteil des BVH heißt es daher zurecht, eine "technische Echtheitsbestätigung der erhobenen Daten" setze grundsätzlich "eine exklusive Kontrolle des Zielsystems im fraglichen Zeitpunkt voraus". Wir erleben jedoch bereits heute einen Rüstungswettlauf zwischen "spy ware" auf der einen und "fire-wall"-, Virenschutz- und anderen Abwehr-Programmen auf der anderen Seite. Eine "exklusive Kontrolle" ist daher schlicht und einfach Fiktion. Das jahrelange Leugnen von Echelon läßt es zudem nicht gerade glaubwürdig erscheinen, daß die eine Macht die technische Überlegenheit einer anderen Macht - und somit die eigene Ohnmacht - der Öffentlichkeit in jedem Falle preisgibt. Welche Chancen hätte daher der Anwalt eines Verdächtigen, nachzuweisen, daß belastendes Material von außen in den PC eingeschleust wurde?

Hieraus zu schließen, diese "exklusive Kontrolle" sei einem Richter schwerlich zu beweisen und daher habe Schäuble schlechte Karten je einen "Bundestrojaner" einsetzen zu können, wäre geradezu naiv. Welche Chance hätte ein Amtsrichter, der bereits gezwungen ist, Telefonüberwachungen im Fließbandverfahren durchzuwinken, den technischen "Beweis" für die exklusiven Fähigkeiten einer Computer-Software nachzuvollziehen oder zu bewerten?

In manchen Kommentaren wurde bereits darauf abgehoben, wichtiger als die im Bundesverfassungsgerichts-Urteil formulierten, mehr oder minder wirksamen Hürden sei das "sensationelle" neue "Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". Dieses Grundrecht dürfe nunmehr ausschließlich im Falle der Gefährdung von Menschenleben eingeschränkt werden. Hoffnung keimt bereits auf, damit sei die verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung vom Tisch. In diesem Falle müßte sich das Bundesverfassungsgericht aber letztlich auf einen Konflikt mit der EU-Burokratie einlassen. Die Erfahrungen mit der "Rechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg geben jedoch Anlaß zu Zweifeln an dessen Standhaftigkeit.

Leider deutet auch der stete Wechsel zwischen harten Formulierungen und nachgeschobenen Aufweichungen in der Begründung des Bundesverfassungsgerichts-Urteils darauf hin, daß hier ein neues - virtuelles - Grundrecht geschaffen wurde, um nunmehr um so ungenierter das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre durchlöchern zu können.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

1 Siehe unseren Artikel
      "Rot-Grün" im Überwachungswahn (8.05.03)

2 Siehe unseren Artikel
      Staatliches Hacken privater Computer bereits seit 2005
      Im Vergleich zu Schily ist Schäuble ein Waisenknabe (25.04.07)

3 Schlechte Karten für "Bundestrojaner",
      Burkhard Schröder, 27.02.2008, 'telepolis'
      http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27387/1.html

Siehe auch unsere Artikel:

      Bald alle Deutsche in "Superdatei" erfaßt?
      Datenschutzbeauftragter kritisiert Pläne für Bundesmelderegister
      (12.02.08)

      30.000 klagen gegen Vorratsdatenspeicherung
      Sensibilität wächst wie zu Zeiten des Volkszählungsboykotts 1987
      (2.01.08)

      Datenschutz - mehr Löcher als Käse
      BKA speichert IP-Adressen (27.11.07)

      15.000 in Berlin gegen Stasi 2.0 (23.09.07)

      Wie die Bundeswehr ihre Daten schützt
      Daten über "rot-grüne" Kriegseinsätze vernichtet (25.06.07)

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      "Blackberry" mit Hintertürchen (21.06.07)

      Bundesverfassungsgericht:
      Abhören von El-Masri-Anwalt war verfassungswidrig (16.05.07)

      Staatliches Hacken privater Computer bereits seit 2005
      Im Vergleich zu Schily ist Schäuble ein Waisenknabe (25.04.07)

      Mabuse und Mielke im Jenseits blaß vor Neid
      Neues "rot-grünes" Telekommunikationsgesetz (26.01.04)

      "Rot-Grün" im Überwachungswahn (8.05.03)

 

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