28.11.2009

Kundus-Massaker:
Jung zurückgetreten
- Aufklärung gestoppt?

Franz Josef Jung, bis zur Bundestagswahl Kriegsminister und zwischenzeitlich Arbeits- und Sozialminister, ist gestern (Freitag) nach anfänglicher Weigerung nun doch zurückgetreten worden. Als Arbeits- und Sozialministerin berief Bundeskanzlerin Angela Merkel nun die bisherige Familienministerin Ursula von der Leyen. Die Bundeskanzlerin könnte so in einem Aufwasch das von "Zensursula" initiierte Internet-Sperren-Gesetz, das sich als nicht verfassungskonform erwiesen hat, möglichst geräuschlos in der Versenkung verschwinden lassen. Nachfolgerin von der Leyens wird die bislang bundesweit nahezu unbekannte hessische Bundestagsabgeordnete Kristina Köhler. Das Kabinetts-Revirement dient offenbar dem Zweck, eine öffentliche Diskussion über das Kundus-Massaker auszutreten, bevor diese richtig um sich greift.

Vor dem Hintergrund, daß nach wie vor eine große Mehrheit der Bevölkerung die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg ablehnt, während seit 2001 eine "rot-grüne", eine "schwarz-rote" und nunmehr eine "schwarz-gelbe" Regierung diese Beteiligung Schritt für Schritt ausdehnen, ist kaum zu erwarten, daß die Bundeskanzlerin ihr Versprechen einlösen wird, das Kundus-Massaker "transparent" aufzuklären und "nichts zu beschönigen".

Dabei war "von Anfang an klar", daß bei dem Bombardement der beiden gekaperten Tanklaster, die in der Nähe von Kundus in einem Fluß stecken geblieben waren, auch ZivilistInnen zu Tode gekommen waren. Dies bestätigte vor wenigen Tagen ein Dozent an der Münchener Bundeswehr-Universität: Zivile Opfer lägen "im Wesen des Partisanenkriegs" begründet. Offenbar wenig bekümmert um Fragen des Kriegsrechts meinte er gar, der deutschen Bevölkerung müsse dies "offen erklärt" werden, um Kritik und ähnlichen Skandalen nach künftigen Ziviltoten vorzubeugen. Aus dieser Sicht besteht der Skandal also nicht darin, daß in Kundus ein offensichtliches Kriegsverbrechen stattgefunden hat, sondern allein darin, daß der billigend in Kauf genommene Tod von ZivilistInnen vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden sollte.

Auch die deutschen Mainstream-Medien haben seit dem 4. September ihren Teil dazu beigetragen, die Einordnung des Kundus-Massakers als Kriegsverbrechen und überhaupt die Frage nach zivilen Opfern aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit herauszuhalten. Dabei war bereits am 5. September in der 'Frankfurter Allgemeinen' auf Seite 2 zu lesen, daß Augenzeugen des Bombardements von einer Vielzahl ziviler Opfer berichteten. Laut einem dieser Zeugen hatten die Taliban den Ort der Bombardierung bereits verlassen, nachdem sie die örtliche Bevölkerung aufgefordert hatten, sich mit Kanistern gratis Treibstoff aus den Tanklastern abzuzapfen. Nach Ansicht eines Bremer Rechtsanwalts liegen mittlerweile Beweise vor, wonach sich die Zahl ziviler Opfer auf 178 belaufe.

Ebenfalls am 5. September wurde ein Interview mit einem afghanischen Arzt bekannt, der die Verwundeten in einem nahe gelegenen Krankenhaus behandelte und der bestätigte, daß sich unter den Opfern auch Kinder befanden. Zwei Tage später besuchte der Oberbefehlshaber der ISAF, US-General Stanley McChrystal, den Tatort. Ein ihn begleitender Journalist veröffentlichte in der 'Washington Post' zahlreiche Einzelheiten über das Ausmaß des Massakers. Dennoch wurde in den deutschen Mainstream-Medien - bis auf wenige Ausnahmen - die Darstellung der Bundesregierung nicht in Zweifel gezogen.

Aufzuklären bleibt allerdings, welchen Kenntnisstand der deutsche Oberst Georg Klein am 4. September zwischen Mitternacht und dem Bombardement um 1:49 Uhr Ortszeit hatte - oder bei Einhaltung militärischer Regeln hätte haben müssen - , als er an die Piloten der Kampfflugzeuge den verhängnisvollen Befehl richtete. Mittlerweile deutet vieles darauf hin, daß er davon wußte, daß sich ZivilistInnen bei den Tankastern aufhielten. Insbesondere liegt bis heute keine offizielle Stellungnahme dazu vor, daß Oberst Klein die zweimalige Frage der Piloten, zuvor im Tiefflug über die Tanklaster zu fliegen, mit einem Nein beantwortet hatte. Und ähnlich wie beim Massaker von My Lai, das 1970 den wahren Charakter des Vietnam-Krieges deutlich werden ließ, stellt sich heute die Frage: Welcher Druck wird von oben auf die mittlere Ebene des deutschen Militärs in Afghanistan ausgeübt, der zu immer unmenschlicheren Entscheidungen führt?

Im Vergleich hierzu erscheinen weitere offene Fragen als zweitrangig, die jedoch derzeit in den Vordergrund gerückt werden. So wäre es nun auch nicht völlig unerheblich zu erfahren, welche Informationen - neben dem kürzlich publik gewordenen Bericht der deutschen Feldjäger - der Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzlerin bereits unmittelbar nach dem 4. September vorlagen. Nicht unerheblich wäre es auch zu klären, ob sich Mitglieder der Bundesregierung des Tatbestands der Strafvereitelung schuldig machten, als sie Informationen - gelesen oder ungelesen - nicht an die Staatsanwaltschaft weiterleiteten. Nicht unerheblich ist auch die Beteiligung der Oppositionsparteien "S"PD und "Grüne", die sich nach wie vor für den Einsatz deutschen Militärs "am Hindukusch" einsetzen und offenbar keinen Anlaß sahen, nach dem Kundus-Massaker genauer nachzufragen. Bei einer Partei wie der "S"PD, deren damaliger Chef Frank Walter Steinmeier am 4. September noch mit am Kabinettstisch saß, ist kaum anderes zu erwarten. Aber zumindest von der Linkspartei haben sich viele Menschen - insbesondere aus der Friedensbewegung - mehr erhofft.

Als am 7. September die NATO der Bundesregierung einen ersten Zwischenbericht vorlegte, wurde dieser der Öffentlichkeit weitgehend vorenthalten. In ihrer Regierungserklärung am 8. September versprach Bundeskanzlerin Merkel zwar einerseits, es werde "nichts beschönigt". Andererseits jedoch schwieg sie, als Kriegsminister Jung das Kundus-Massaker im Bundestag weiter abstritt und versuchte, sich mit der Formel "Wenn es zivile Opfer gegeben hat..." über die Runden zu retten. Und in ihrer Regierungserklärung wandte sie sich in ungewohnter Schärfe gegen eine "Vorverurteilung" der Bundeswehr und sagte: "Ich verbitte mir das und zwar von wem auch immer, im Inland wie im Ausland." Und in den vergangenen zwölf Wochen deutete nichts darauf hin, daß die Bundesregierung etwas zur Aufklärung beisteuerte, aber vieles darauf, daß der Mantel des Schweigens ausgebreitet werden sollte. Auch der jetzige Kriegsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hatte noch am 6. November erklärt, das Bombardement der Tanklaster sei als "militärisch angemessen" zu bewerten.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe unsere Artikel zum Thema:

      Wird das Bundeswehr-Massaker von Kundus jetzt aufgeklärt?
      Der Generalinspekteur der Bundeswehr
      und ein Staatssekretär traten heute zurück (26.11.09)

      Massaker in Afghanistan?
      Regelverletzung bei Bombardierung? (10.09.09)

      Afghanistan-Krieg: ZivilistInnen getötet
      bei Bombardierung zweier Tanklaster? (7.09.09)

 

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