BefürworterInnen der "zivilen" Nutzung der Atomenergie lassen in ihrer Argumentation meist die militärische Nutzung in Form der Atombombe völlig außer acht oder verschwiegen diese bewußt. Dabei sorgte der siamesische Zwilling des Atomkraftwerks, die Atombombe, von Beginn an dafür, daß die staatlichen Subventionen reichlicher flossen als jemals zuvor in der Wirtschaftsgeschichte dieses Planeten. Nur so konnte in mehr als neun Staaten die Technologie zum Bau der Atombombe entwickelt oder nachvollzogen werden. Der "Vater der pakistanischen Atombombe", der Physiker Abdul Qadeer Khan, gelangte beispielsweise während Studienaufenthalten in Deutschland in den Besitz des nötigen Know-how.
Laut Text des Atomwaffensperrvertrags werden nur jene Staaten als "Atommächte" bezeichnet, die bereits vor dem Januar 1967 offiziell atomare Waffen getestet haben. Dabei handelt es sich um die USA, Rußland, Frankreich und Großbritannien. Als weitere Atommächte gelten China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Doch auch Deutschland ist indirekt längst zur Atommacht aufgestiegen, da sowohl das Know-how zur Verfügung steht, als auch US-amerikanische Atombomben hierzulande stationiert sind und Tornados mit deutscher Besatzung für deren Einsatz bereit stehen.
Die Bezeichnung als "siamesische Zwillinge" ist nicht allein mit Blick auf die Entwicklung der vergangenen fünfzig Jahre gerechtfertigt, sondern auch, weil bis heute eine Trennung in einen zivilen und einen militärischen Teil unmöglich ist. Sowohl für das Atomkraftwerk als auch für die Atombombe wird so genanntes angereichertes Material benötigt, wie es in der Natur nicht vorkommt.
Die Produktion einer Bombe mit hochangereichertem Uran ist sehr teuer und aufwendig. Allerdings gibt es einen anderen Weg zur Atombombe, basierend auf Plutonium: Während des Betriebs von Atomkraftwerken wandelt sich ein Teil des Uran in Plutonium um. Die Reaktoren des Tschernobyl-Typs wurden eigens zur Plutonium- Erzeugung für den Bombenbau konstruiert - die Stromproduktion war von Beginn an lediglich Nebeneffekt. Druckwasserreaktoren, die heute am häufigsten in Atomkraftwerken im Einsatz sind, waren ursprünglich für den Antrieb von Atom-U-Booten konzipiert. Die sogenannten Wiederaufbereitungsanlagen verfolgen immer auch einen militärischen Zweck, nämlich die Abtrennung des Atombomben-Plutoniums aus abgebrannten Brennelementen.
Die Rede von der "friedlichen Nutzung der Atomenergie", "atoms für peace", diente in den fünfziger und sechziger Jahren lediglich zur Täuschung der BürgerInnen in den USA oder auch in Deutschland. Tatsächlich wollten die USA noch 1945 - nach dem Schock des Abwurfs der ersten beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki - die Verbreitung der Nukleartechnologie verhindern, ebenso die Sowjetunion. Doch der Geist war aus der Flasche. Großbritannien, Frankreich und weitere Staaten waren bereits dabei, Atombomben zu bauen.
1957 wurde die Internationale Atomenergiebehörde IAEA als Sonderorganisation der UNO mit Sitz in Wien mit der im Grunde schizophrenen Zielsetzung gegründet, einerseits die "friedliche Nutzung" der Atomenergie zu fördern und andererseits die Weiterverbreitung der Atomwaffen-Technologie zu verhindern. Die Atomlobby startete eine Propagandakampagne für Atomkraft, die bewußt den Zusammenhang von Atomkraftwerken und atomarer Rüstung verschleierte.
Mit dem Atomwaffensperrvertrag, der 1970 in Kraft trat, sollte der Besitz von Nuklearwaffen auf die USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien und China beschränkt werden. Diese Staaten haben sich mit dem Vertrag auch zur Abrüstung verpflichtet. Es gab zwar zeitweilige Fortschritte in der Abrüstung, aber das weltweite offiziell bekannte Atomwaffenarsenal beträgt noch immer mehr als 20.000 Sprengköpfe mit einem Vernichtungspotential, das für die Ausrottung der gesamten Menschheit ausreichen würde. Über die meisten Sprengköpfe verfügen die USA mit rund 10.000. Im Atomwaffensperrvertrag ist aber auch ausdrücklich festgelegt, daß alle Unterzeichnerstaaten, die keine Atomwaffen besitzen, bei der "friedlichen Nutzung der Atomenergie" unterstützt werden sollen.
Jeder einzelne atomare Sprengkopf hat heute eine rund zwanzigmal größere Zerstörungskraft als die Hiroshima-Bombe. Gleichzeitig wächst die Gefahr, daß Frühwarnsysteme über Datenverbindungen manipuliert werden. Zudem reagieren die Alarmsysteme sowohl der USA als auch Rußlands täglich auf Ereignisse wie Brände, Satellitenstarts und auch auf die Reflektion von Sonnenstrahlen an Wolken. Der frühere General der US Airforce und langjährige Oberbefehlshaber des US-amerikanischen Nuklearstreitkräfte, Lee Butler, bezeichnete in einer öffentlichen Rede 2002 die nukleare Kriegsplanung der Vereinigten Staaten als Irrsinn: "Ich verstand endlich die wahre Bedeutung von MAD, von Mutually Assured Destruction (gesicherte gegenseitige Zerstörung; engl. mad = verrückt)".
Lee Butler: "In den 36 Monaten als oberster Kernwaffenberater des Präsidenten nahm ich jeden Monat an einer Übung teil, die unter dem Namen "Raketenbedrohungskonferenz" bekannt wurde. Buchstäblich ohne Ausnahme begann die Bedrohungskonferenz mit einem Szenario, das von einem Angriff auf die Vereinigten Staaten mit einem, mehreren, Dutzenden, dann Hunderten und schließlich Tausenden von Thermonuklearsprengköpfen ausging. War der Angriff ausgewertet und bewertet und standen angesichts der Situation genügend Informationen für eine Entscheidung zur Verfügung, blieben dem Präsidenten maximal zwölf Minuten, um eine Entscheidung zu treffen. Zwölf Minuten für eine Entscheidung, die - zusammen mit der Entscheidung eines Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel, der vielleicht einen solchen Angriff angeordnet hatte - nicht nur das Überleben der Kriegsgegner aufs Spiel setzte, sondern das Schicksal der gesamten Menschheit mit der Aussicht, daß innerhalb weniger Stunden etwa 20.000 Thermonuklearwaffen explodierten."
Der Zusammenhang zwischen "friedlicher" und militärischer Atomkraft ließ sich nicht mehr leugnen, als die Bedrohung einer atomaren Aufrüstung in Ländern Realität wurde, die zuvor einen Atomreaktor nur "zur friedlichen Nutzung" gebaut hatten. Dem Reaktor folgte die Bombe. Indien und Pakistan sind Beispiele, die zudem in einem direkten Konflikt miteinander stehen. In den 70er Jahren bestellten sowohl Argentinien als auch Brasilien Atomkraftwerke. In beiden Ländern waren damals Militärdiktaturen an der Macht, die über den Umweg von AKW in den Besitz von spaltbarem Material und von Bombentechnologie kommen wollten. Das einzige Atomkraftwerk Afrikas befindet sich im südafrikanischen Koeberg. Auch dessen Reaktoren dienten dem damalige Apartheid-Regime als Einstieg, um in den Besitz einer Atombombe zu kommen. Im Zuge der Demokratisierung Südafrikas wurden die sechs produzierten Bomben wieder demontiert und das spaltbare Material unter Aufsicht der IAEA gestellt.
Klar ist: Die Verbreitung von Kenntnissen der Atomtechnologie zur Waffenproduktion läßt sich nicht verhindern, solange die Nutzung zur Produktion von Strom fortgeführt wird.
Obwohl Mengen, Transport und Verweildauer von bombenfähigem Material akribisch aufgezeichnet werden muß, kommt weltweit immer wieder angereichertes Uran oder Plutonium abhanden. So verschwanden 2005 aus der britischen WAA Sellafield, einer der größten Atom-Anlagen der Welt, 30 Kilogramm Plutonium. Diese Menge würde zum Bau von acht Atombomben ausreichen. In der bereits aus früheren Fällen bekannten, typischen Manier versuchte der Betreiber-Konzern British Nuclear Fuels (BNFL) den Verlust im jährlichen Inventurbericht als "Buchhaltungsproblem" und "Verlust auf dem Papier" herunterzuspielen.
Zwei Jahre zuvor hatte der TV-Sender ABC in einem Experiment mit Nuklearmaterial in einem bleiummantelten Behälter nachgewiesen, daß ein Paket mit rund sieben Kilogramm ohne ernsthaftes Risiko von Kontrollen weltweit versendet werden kann. Von Österreich aus kam das Paket auf dem Weg über Istambul und eine Reihe weiterer Zwischenstationen unbehelligt zum zweiten Jahrestag des 11. September in New York an. Korrespondent Brian Ross, der den Uran-Koffer transportierte, wunderte sich über die fehlende Wachsamkeit aller Behörden in den bereisten Ländern: "Sieben Länder, 25 Tage, 15 Pfund Uran - und keine einzige Frage".
Jedes Jahr werden mehrere Vorfälle mit illegalem Handel von waffenfähigem Material bekannt. Wie die IAEA festhält, stecken hinter einer Vielzahl der Vorfälle kriminelle Machenschaften. Die Vermutung liegt nahe, daß auf dem Schwarzmarkt hohe Preise für solches Material geboten werden. Allein zwischen 1993 und 2004 wurden 424 Vorkommnisse mit radioaktiven Substanzen gemeldet. Diese radioaktive Substanzen können aus Atomkraftwerken, Fabriken, aber auch aus Krankenhäusern stammen. Etwa 50 dieser Informationen über Vorkommnisse betreffen Substanzen und Mengen, die zwar nicht für den Bau einer Atombombe geeignet sind, aber durchaus für den Bau so genannter "schmutziger Bomben". Dabei handelt es sich um einen Sprengsatz aus konventionellem Sprengstoff, dem radioaktives Material beigemischt wird. SicherheitsexpertInnen befürchten Terroranschläge mit "schmutzigen Bomben". Im Vergleich zu einer Atombombe besitzen diese zwar nicht deren enorme Sprengkraft, da keine Nuklearexplosion ausgelöst wird. Ziel ihres Einsatzes aber könnte es sein, radioaktives Material über ganze Städte und Landstriche zu verstreuen und diese so auf lange Sicht unbewohnbar zu machen.
Ebenso besorgniserregend wie die Weiterverbreitung von waffenfähigem Nuklear-Material ist der Handel mit Atombomben-Technologie. In der Schweiz sind derzeit drei Schweizer Bürger wegen Verstößen gegen das Kriegsmaterial- und Güterkontrollgesetz sowie wegen Geldwäsche angeklagt. Aus der Anklageschrift des Schweizer Untersuchungsrichters Andreas Müller geht hervor, daß sie sowohl Pakistan als auch Libyen mit nuklearem Fachwissen versorgt haben sollen. Der US-amerikanische Geheimdienst CIA hat laut 'New York Times' zehn Millionen US-Dollar an die drei Schweizer bezahlt, die zuvor als Mittelsmänner des pakistanischen Wissenschaftlers und Atomwaffen-Spezialisten Abdul Qadeer Khan gearbeitet haben und dann für die CIA Informationen über das iranische und libysche Atomwaffen-Programm lieferten. Auf Druck der USA hin wurde in der Schweiz eine große Zahl an Akten vernichtet, um Beweise über die CIA-Aktivitäten zu vertuschen.
Deutschland geriet bereits mehrfach in den Verdacht, in den Besitz atomwaffenfähigen Materials gelangen zu wollen oder zumindest, solches Material nicht ausreichend unter Kontrolle halten zu können. So ist beispielsweise bekannt, daß am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) Garching bei München mit atomwaffenfähigem Material gearbeitet wurde. Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA hatte - noch unter ihrem früheren Vorsitzenden Hans Blix - von der deutschen Bundesregierung gefordert, auf den Einsatz hochangereicherten Urans im Forschungsreaktor Garching 2 zu verzichten. Dieser Forderung schloß sich der heutige Vorsitzende der IAEA, Mohammed al-Baradei, vor wenigen Jahren an. Doch selbst der Protest der USA an die deutsche Bundesregierung, in dem von einem Bruch des Non-Proliferations-Abkommens die Rede ist, blieb wirkungslos.
Auch in Ländern, die derzeit keine Atomwaffen besitzen oder anstreben, kann aus Atomkraftwerken waffenfähiges Plutonium für die Waffenproduktion abgezweigt werden. Schon allein diese Möglichkeit zeigt, wie unverantwortlich jegliche Nutzung der Atomenergie ist. Eine absolute Kontrolle über die Bestände an Uran und Plutonium ist nicht möglich. Nur der Stop von Atomprojekten und die Stilllegung aller Atomanlagen kann das Risiko der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen vermindern.
NETZWERK REGENBOGEN
Die übrigen Folgen der Info-Serie:
1 Grundlagenwissen
2 Der deutsche "Atom-Ausstieg"
3 Die Subventionierung der Atomenergie
5 Umweltverbrechen Uran-Abbau
6 Uran-Ressourcen und die Zukunft der Atomenergie
7 Die Geschichte der Atom-Unfälle
8 Die stille Katastrophe
9 Der italienische Atom-Ausstieg
10 Schwedens "Atom-Ausstieg"
11 Atomenergie in Frankreich
12 Das ungelöste Problem der Endlagerung