Info-Serie Atomenergie
Folge 11

Atomenergie in Frankreich

Die Atomkraftwerke

Leider wird es in Deutschland häufig so dargestellt, als habe Frankreich 58 Atomkraftwerke - eine schier unüberwindlich hohe Zahl.1 Tatsächlich handelt es sich dabei aber um die Zahl der Reaktoren. Die Zahl der französischen AKWs beträgt tatsächlich nur 19, da in einigen französischen AKWs bis zu sechs Reaktoren vorhanden sind. In Deutschland sind immer noch 8 Atom-Reaktoren in Betrieb. Hinzu kommt, daß ein Atom-Ausstieg in Frankreich dadurch erschwert wird, daß neben der Atomindustrie das Militär einen großen Einfluß auf die Politik ausübt. Bekanntlich dient die Plutoniumfabrik in La Hague - die sogenannte Wiederaufarbeitungsanlage - vorrangig militärischen Zwecken.

Das AKW Fessenheim2

Das älteste französische Atomkraftwerk im elsässischen Fessenheim am Oberrhein - nur 24 Kilometer Luftlinie von Freiburg entfernt - hatte am 7. März 2007 30-jähriges Betriebsjubiläum. Von den Konstrukteuren war es ursprünglich nur für eine Betriebsdauer von 20 bis 25 Jahren vorgesehen, das AKW hätte also spätestens im Jahr 2002 stillgelegt werden müssen. Statt dessen wurde 2003 die Betriebserlaubnis von der französischen Regierung auf 30 Jahre verlängert. Trotz der angeblich so rentablen Atomenergie hatte der EdF, dem französischen Strom-Monopolisten, in der ersten Halbjahresbilanz 2003 noch ein Defizit von 6 Milliarden Euro gedroht. Allein durch die Laufzeitverlängerung gewannen die 58 französischen Reaktoren auf dem Papier enorm an Wert und der Konzern konnte einen Gewinn von 728 Millionen Euro ausweisen.

Schon in den ersten Jahren nach dem Betriebsbeginn 1977 machte das AKW Fessenheim durch sogenannte Störfälle und bauliche Mängel Schlagzeilen. So wurde bereits im Herbst 1979 durch die Aussage eines vormaligen Sicherheitsingenieurs der EdF bekannt, daß sich in den Stutzen des Reaktordruckbehälters Risse befinden. Beim Reaktordruckbehälter handelt es sich quasi um das Herz des Atomkraftwerks, in dem die mit Uran gefüllten Brennstäbe die Kettenreaktion in Gang setzen.

Im Juni 1991 werden auch Risse im Deckel des Reaktordruckbehälters von Block 1, später auch im Deckel von Block 2 entdeckt. Im November 1996 stand eines von drei Sicherheitsventilen über einen Monat lang offen, ohne daß es bemerkt wurde. Dies gelangte erst einen Monat verspätet an die Öffentlichkeit. Im November 1998 wurde eine defekte Schweißnaht im Noteinspeisekreislauf publik. Im August 2000 mußte die EdF eingestehen, daß die Wasserbecken des Notkühlsystems und das Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente nicht erdbebensicher sind. Fessenheim liegt im Rheingraben zwischen Schwarzwald und Vogesen, bei dem es sich um ein ausgesprochenes Erdbebengebiet handelt. 2004 werden bei Reparaturarbeiten am Primärkreislauf des AKW Fessenheim insgesamt 12 ArbeiterInnen verstrahlt. Auch dies wird - wie so oft - erst nach einer Verspätung von mehreren Tagen publik - offenbar erst, wenn die EdF realisiert, daß sie einen Unfall nicht länger verheimlichen kann.

Die Betonhülle des Containments besteht lediglich aus 80 Zentimeter Spannbeton und könnte dem gezielten Absturz eines Cessna-Kleinflugzeugs nicht standhalten, geschweige denn dem eines gekaperten Linienflugzeugs nach Vorbild des 11. September 2001.

Als Folge eines Super-GAUs im AKW Fessenheim - entsprechend der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - würde bei der meist vorherrschenden Windrichtung nicht nur Freiburg, sondern ein Territorium bis in den Raum Nürnberg-Würzburg für Jahrzehnte unbewohnbar machen.

Das AKW Cattenom

Im August 1986 - knapp vier Monate nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl - wurde das AKW Cattenom an der französisch-saarländischen Grenze bei einem Hochwasser der Mosel überflutet. Wasser drang in die Keller des AKW ein, in denen sich die sensibelsten Teile der Reaktoren befinden, unter anderem die Hochleistungspumpen des Primärkreislaufs. Aber auch in den überfluteten Verbindungsgängen drohte Gefahr. Hier laufen die Kabel entlang, die die Schaltanlagen und Pumpen der Reaktoren versorgen.

Das AKW Cattenom mit seinen vier Reaktorblöcken ist besonders von Flugzeugabstürzen gefährdet. Nach nicht-offiziellen Informationen ist sein Containment nicht besser als das des AKW Fessenheim mit seiner 80-Zentimeter-Betonschale. Über Cattenom hinweg verlaufen gleich mehrere Flugrouten. Das AKW liegt umgeben von sieben Flughäfen. Nur einige Kilometer entfernt befindet sich das französiche Übungsgebiet für Tiefflieger. Im Juli 1981 raste ein Mirage-Kampfflugzeug in einen Sendemast - nur einige Kilometer vom AKW Cattenom entfernt.

Das AKW Blayais

Ein Unfall, bei dem nur äußerst knapp ein GAU hatte vermieden werden können, ereignete sich in Folge des Sturms 'Lothar' in der Nacht zum 28. Dezember 1999 im AKW Blayais in der Nähe von Bordeaux. Das Hochwasser der Gironde, das in diesem Ausmaß bei der Planung des AKW Blayais nicht vorgesehen war, hatte dazu geführt, daß Wasser ins Reaktorgebäude eindrang und zentrale Anlagen-Teile überflutete.

Spätere Analysen des Unfall-Hergangs zeigten, daß ein Zusammenbruch der Stromversorgung kurz bevor stand und damit die Notabschaltung unmöglich geworden wäre. Die Pumpen der Kühlkreisläufe wären ausgefallen, der Reaktorkern wäre durchgebrannt und eine Explosion des Reaktordruckbehälters unvermeidbar geworden. Entgegen der sonstigen Verschwiegenheit der französischen Presse in Fragen der "nuklearen Sicherheit" berichtete die Zeitung 'Sud Ouest', daß das AKW Blayais nahe Bordeaux nur knapp einem schweren Unglück entgangen sei.

Weitere Informationen zu den französischen Atomkraftwerken

Durch einen Report der Internationalen Atomenergie-Agentur, IAEO, wurde bekannt, daß bei sieben französischen Reaktoren die Reaktorschnellabschaltung versagte - die wichtigste Sicherheitseinrichtung überhaupt. Das AKW Chooz A an der französisch-belgischen Grenze wies Defekte an allen Kontrollstäben auf - an allen waren Risse, Abnutzungen und gebrochene Schweißnähte zu erkennen. Auch die vielen Brände in der sogenannten Wiederaufarbeitungsanlage La Hague - wie der von 1981, der 20 Menschen "nennenswert bestrahlte" - wurde zunächst einfach verschwiegen. Alle Mängel behandelt die französische Nuklearindustrie wie Staatsgeheimnisse. So werden viele Unfälle nie bekannt.

Im Oktober 2002 war durchgesickert, daß bei 34 der französischen Reaktoren, insbesondere denen der 900-MW- und der 1300-MW-Klasse, erhebliche Mängel in der Auslegung gegen Erdbeben festgestellt worden waren. Insbesondere war der EdF bekannt, daß bei diesen Reaktor-Typen sicherheitsrelevante Ventile im Falle eines Erdbebens in ihrer Funktionsfähigkeit gefährdet sind. All dies erregte jedoch erst durch Veröffentlichungen des französischen 'Netzwerks für Atom-Ausstieg' und das heftige Erdbeben in Italien im Jahr 2003 öffentliche Aufmerksamkeit.

Bekannt wurde dann auch, daß die Mängel bereits im November 2000 beim Reaktor 1 in Cattenom entdeckt worden waren. Anschließende interne Untersuchungen ergaben zunächst, daß fünf weitere Reaktoren, Cattenom 3, Flamanville 2, Saint-Alban 2 sowie Golfech 1 und 2 ebenfalls betroffen sind.

Ende Oktober 2002 wurde dann bekannt, daß bei weiteren sieben Reaktoren die Kühlung ebenso wie die Notkühlung im Falle eines starken Erdbebens nicht gewährleistet sei. Auch diese Mängel seien bereits im Jahr 2000 entdeckt worden - in den AKWs Bugey und Fessenheim. Auf Weisung der Aufsichtsbehörde habe die EdF daraufhin weiter Reaktoren überprüft. Ebenfalls im Oktober 2002 wurde dann bekannt, daß diese Mängel auch bei Reaktoren in den AKWs Chinon, Blayais, Tricastin, Dampierre und Saint-Laurent festgestellt worden seien.

2003 wurde dem französischen 'Netzwerk für Atom-Ausstieg' (Réseau Sortir du nucléaire) ein internes Dokument der EdF zugespielt. Dieses Dokument vom Dezember 2002 beweist: Nachdem die französische Kontrollbehörde IRSN Mängel an französischen Atomkraftwerken in Hinblick auf die Erdbebensicherheit aufgezeigt hatte, war es der EdF wichtiger, Druck auf die IRSN auszuüben, als die von dieser Behörde aufgezeigten Mängel umgehend zu beseitigen. Die renommierte französische Tageszeitung 'Figaro' schrieb am 10. Juni 2003 von einer "großen Vertrauenskrise". Als besonders erdbebengefährdet wurden die Atomkraftwerke Bugey und Fessenheim genannt. Als "bedrohlich" sah die EdF in ihren internen Schreiben allerdings nur die "Gefahr", für die Beseitigung der Mängel zwischen 200 und 400 Millionen aufbringen zu müssen.

Bereits im Jahr 2002 hatte sich die IRSN bei der französischen Atom-Mafia unbeliebt gemacht. Die sogenannte Tschernobyl-Affaire spaltete die französischen Atomenergie-Gemeinde in zwei Lager. Hintergrund ist, daß im Jahr 1986 die radioaktive Verseuchung infolge der Tschernobyl-Wolke in Frankreich offiziell geleugnet wurde. Kabarettisten sprachen damals davon, die Wolke habe an der deutsch-französischen Grenze Halt gemacht.

Diese Affaire begann am 24. April 2002. An diesem Tag organisierte die IRSN aus Anlaß des bevorstehenden 16. Jahrestags der Katastrophe von Tschernobyl eine Pressekonferenz, bei der sie eine neue Karte von Frankreich mit der radioaktiven Verseuchung durch Cäsium 137 aus Tschernobyl präsentierten wollte. Das wurde zunächst mit Nichtbeachtung oder Kommentaren, daß es sich dabei um nichts Neues handle, aus weiten Kreisen der Atom-Gemeinde beantwortet. Doch die Affaire verschärfte sich derart, daß eine Vielzahl von Personen sich nur noch anonym dazu äußern wollte. Von oben hieß es, die Veranstaltung sei "nicht opportun". Die lebhafteste Reaktion kam zweifellos vom einschlägig bekannten Medizin-Professor Aurengo, der in einem Schreiben ans französische Umwelt- und Gesundheitsministerium seine Autorität in die Waagschale werfen wollte, um jegliche Veröffentlichung als "methodisch fragwürdig" unterdrücken zu lassen. 2001 war Prof. Aurengo selbst von der Regierung Jospin beauftragt worden, eine Kartographie der Kontaminierung des französischen Bodens zu erstellen, die jedoch offensichtlich der Verharmlosung dienen sollte und deren Veröffentlichung sich bis dato hinausgezögert hatte.

Im Jahr 2004 wurde bekannt, daß sämtliche französischen Druckwassereaktoren und darüber hinaus alle vom Bauprinzip her entsprechenden Reaktoren weltweit eklatante Fehler im Notkühlsystem aufweisen.

Der Schnelle Brüter von Malville

Zu Beginn ein Zeitsprung um 30 Jahre ins Jahr 1977 und ein persönlicher Bericht:

"Ende Juli 1977 trafen sich AtomkraftgegnerInnen aus vielen westeuropäischen Staaten in Malville. Wir wollten am Bauplatz des französischen schnellen Brüters "Superphénix" demonstrieren. Französische Staatsorgane und einige französische Medien denunzierten die deutschen AtomkraftgegnerInnen als "Nachfolger Hitlers", die Frankreich erneut besetzen wollten und gegen die alle Gewaltmaßnahmen erlaubt seien.

Es war ein strahlend schöner, heißer Sommer. Wir reinigten unsere klapprigen Gebrauchtwagen von Anti-Atom-Aufklebern und sonstigen Symbolen unserer Aufsässigkeit und überquerten in der Hauptferienzeit, getarnt als UrlauberInnen, an vielen Grenzorten, nirgends geballt, die deutsch-französische Grenze. In einer hügeligen, naßgeregneten Landschaft erlebten wir unser Waterloo.

Paramilitärische Sondereinheiten der französischen Polizei, die CRS, schossen mit scharfen Sprenggranaten in die Demonstrationszüge. Dem Franzosen Vital Michalon zerriß der Druck einer Polizeigranate die Lunge. Er starb. Ich begegnete dem Hamburger Fotografen Günter Zint zum ersten Mal, als er kreidebleich über ein Feld lief. Er hatte soeben einen Demonstranten fotografiert, dem eine Granate einen Fuß abgerissen hatte. Wir flohen in unsere Camps, die bald darauf von der CRS überfallen wurden. Sie schlugen unsere Zelte nieder und verprügelten alle AKW-GegnerInnen, die sie fanden. Wer im Auto fliehen wollte, mußte durch das Spalier einer Knüppelgarde, die ohne Rücksicht auf die InsassInnen die Autofenster mit Knüppeln zerschlug. Viele ließen ihre PKWs stehen und rannten in die Kornfelder oder versteckten sich auf Bauernhöfen. Nie zuvor hatten französische Nonnen AKW-GegnerInnen in einem Kloster vor der Polizei versteckt.

Das Entsetzen über die Ereignisse in Malville mündete rund zwei Monate später im nordrhein-westfälischen Kalkar in eine besondere deutsche Erfahrung."

Soviel aus Jutta Ditfurths Buch 'Das waren die Grünen' - ein sehr lesenswertes Buch, das leider vom Verlag aus dem Programm genommen wurde. Es ist aber in Antiquariaten erhältlich oder kann in Universitätsbibliotheken ausgeliehen werden. Der Titel 'Das waren die Grünen' mag manche heute verwirren - ihnen könnte das Buch recht anschaulich Auskunft darüber geben, warum es diese Partei nur von 1979 bis 1990 gab.

1977 waren über 50.000 DemonstrantInnen nach Malville gekommen - eine heute aus deutscher Sicht fast utopisch anmutende Zahl. Der Schnelle Brüter "Superphénix" lief wegen vieler sogenannter "Betriebsstörungen" insgesamt nur sechs Monate.

Fünfzehn Jahre später:

Dreihundert WissenschaftlerInnen und VertreterInnen des öffentlichen Lebens fordern die französische Regierung im Februar 1992 dazu auf, den Weiterbetrieb des derzeit stillgelegten Schnellen Brüters "Superphénix" zu untersagen. Nach dem Verzicht der Bundesrepublik auf den Brutreaktor in Kalkar bleibe der "Superphénix" das einzige derartige Industrieprojekt in Europa, hieß es in dem Appell. Das Abenteuer der deutschen Atom-Mafia in Kalkar hatte die deutschen SteuerzahlerInnnen mehrere Milliarden Euro gekostet.

Erst 1997 wurde der Plutonium-Reaktor in Malville, der nie richtig funktioniert hatte, endgültig stillgelegt. Seit 1996 hatte er keinen Strom mehr produziert. 1997 wurde dabei ein heftiges politisches Spektakel veranstaltet. Bis Juni 1997 hatte der rechte Premierminister Alain Juppé unter Jacques Chirac die Regierungsgeschäfte geführt. Damit die ab Juni regierende pseudo-sozialistische Regierung Jospin - weiterhin unter dem rechten Präsidenten Chirac - die Abschaltung der "Superphénix" als ihren Sieg verkaufen konnte, wurde folgendes Hin- und Her inszeniert:

Bereits am 1. März 1997 hatte Frankreichs oberstes Verwaltungsgericht die Erlaubnis für die Wiederinbetriebnahme aus dem Jahr 1994 annulliert. Am 14. März gab der Industrieminister erneut die Genehmigung, um den "Superphénix" anfahren zu lassen.
Tatsächlich ging er aber nicht in Betrieb.
Im Juni 1997 kündigte Lionel Jospin als eine seiner ersten Taten als Premierminister die Schließung des "Superphénix" an.

Zugleich versuchte dessen pseudo-grüne Umwelt-Ministerin Dominique Voynet das Ende des "Superphénix" als eigene Tat und als Preis für ihren Eintritt in die Regierung Jospin zu vermarkten. Tatsächlich hatte 1997 nicht nur in Deutschland eine Partei, sondern längst auch in Frankreich die "Les verts" ihre Ursprünge verraten.

Auch in Frankreich kann nicht - weder damals noch heute - als bekannt vorausgesetzt werden, daß vor 1997 zwei Faktoren für das Ende des "Superphénix" ausschlaggebend waren: Zum einen die technischen Probleme und die damit verbundene Funktion als Milliarden-Grab, zum anderen der Prozeß gegen den "Superphénix", in dem die Vorgängerin Voynets als Umwelt-Ministerin - unter Premierminister Alain Juppé - Corinne Lepage als Rechtsanwältin engagiert war, bevor sie ins Kabinett Juppé eintrat. Wie schon erwähnt markierte das Urteil vom 1. März 1997 eine Weichenstellung.

Ob sich nun Voynet oder Lepage das Ende des "Superphénix" als Sieg auf die eigene Fahne schreiben darf, interessiert heute kaum mehr jemanden - außer die beiden Damen, die sich spinnefeind sind. Lepage hatte sich während ihrer gesamten Amtszeit als Umwelt-Ministerin für das Ende des "Superphénix" ausgesprochen. Für Juppé war dies ein gerne geduldetes Aushängeschild, während er als Premierminister alles dafür tat, den "Superphénix" wieder in Gang zu bringen. Weder Lepage noch Voynet haben außer einer solchen Funktion als Aushängeschild real eine positive Bilanz - etwa im Umweltschutz - vorzuweisen. Lepage führt eine der inzwischen drei pseudo-grünen Parteien in Frankreich an.

Eine weitere kleine Kuriosität am Rande: 1997 hatte die Kommunistische Partei Frankreichs, die KPF, mit dem Untergang des Ostblocks ihre ideologische Orientierung verloren. Immerhin war sie im Laufe der Jahre soweit fortgeschritten, daß sie eine innerparteiliche Diskussion über Pro oder Contra "Superphénix" dulden wollte. Die kommunistische Richtungsgewerkschaft CGT jedoch schlug melodramatische Töne an, um die schlimmen Folgen eines Abschieds von einer "erfolgreichen Technologie" auszumalten. CGT-Chef Louis Viannet führte im Oktober eine Demonstration gegen die Abschaltung des "Superphénix" an.

Nach einem Bericht des Cour des Comptes - vergleichbar mit dem deutschen Bundesrechnungshof - von 1996 belaufen sich die Kosten für den "Superphénix" auf umgerechnet über 9 Milliarden Euro.

Die letzten der 650 Brennstäbe wurden am 18. März 2003 entfernt und befinden sich seitdem in Kühlbecken. Ähnlich wie nach der Schließung des Dounreay Fast Reactor in Großbritannien wurde 2004 in Erwägung gezogen, eine Anlage zu bauen, die die 5.500 Tonnen Natrium aus dem ehemaligen Kühlsystem in 70.000 Tonnen Beton einschließt.

Auch bei der Stilllegung des Superphénix trug die französische Atom-Mafia einen kleinen Sieg davon: Denn mit Milliardenaufwand wurde der zwei Jahre zuvor abgeschaltete Vorgänger Phénix als sogenanntes Versuchslabor zur Atommüllverbrennung wieder angeschaltet. Dort sollten langlebige Isotope mit Neutronen beschossen werden, um sie in Spaltprodukte mit kürzerer Halbwertszeit oder sogar in stabile Nuklide umzuwandeln. Kritische WissenschaftlerInnen bezeichneten dies als pures Blendwerk, um so den französischen SteuerzahlerInnen erneut Millionen abknöpfen zu können. Die 'Zeit' schrieb hierzu am 5.02.1998: "Viele Experten halten diese Art der Abfallentsorgung jedoch für utopisch und mutmaßen bereits, Phénix solle letztendlich nur die skeptische Bevölkerung von der Notwendigkeit überzeugen, den nuklearen Schrott endzulagern." Seit Jahren ist von der sogenannten Atommüllverbrennung nichts mehr zu hören.

Die Plutonium-Fabrik in La Hague

Politisch stellte Frau Voynet das ökologische Alibi für die offiziell als Wiederaufbereitungsanlage (WAA) bezeichnete Fabik in La Hague dar. In dieser werden auch die abgebrannten Brennstäbe aus anderen Ländern - darunter Deutschland und Japan - zerlegt und der begehrte Spalt- und Bomben-Stoff Plutonium gewonnen. Die ursprüngliche Idee war, das Plutonium zum Bau von Atombomben und als Brennstoff für "Schnelle Brüter" zu verwenden. Heute gibt es dafür keinen Bedarf mehr, weil die Technologie der Brüter gescheitert und Plutonium im Übermaß vorhanden ist. Die Anlage wird jedoch nach wie vor für den militärischen Bedarf der französischen force de frappe benötigt, da die atomaren Sprengköpfe der Raketen und Atombomben regelmäßig ausgetauscht und erneuert werden müssen. Allein durch die Separierung abgebrannter Brennstäbe deutscher AKWs fielen in La Hague bisher rund 40 Tonnen Plutonium an. Eingeatmet genügt ein Mikrogramm Plutonium, um Lungenkrebs auszulösen.

Genau betrachtet arbeiten in La Hague die zwei Fabriken UP 2 und UP 3. Die Abkürzung UP bedeutet Usine Plutonium (übersetzt: Plutoniumfabrik). Die gesamte Kapazität beträgt 1.600 Tonnen pro Jahr, soll aber auf 1.700 Tonnen pro Jahr ausgedehnt werden. Die Betreiberfirma der Wiederaufarbeitungsanlage COGEMA (Compagnie Générale des Matières Nucléaires) befindet sich zu 89 Prozent im Besitz des staatlich kontrollierten Commissariat à l'Energie Atomique (CEA). Dieses Kommisariat ist für die französische Atomwaffenproduktion und das gesamte Atomwaffentestprogramm verantwortlich. Die übrigen 11 Prozent sind im Besitz des französischen Ölmultis TotalElfFina.

Wie die Geschichte der "Wiederaufarbeitungsanlagen" La Hague in Frankreich und Sellafield in Großbritannien zeigt, führt schon der "Normalbetrieb" zu radioaktiver Verseuchung. Aus beiden Anlagen wurde über Jahre rund 500 Millionen Liter flüssiger radioaktiver Abfall routinemäßig ins Meer geleitet. Für La Hague wurde errechnet, daß 20-mal mehr Müll entsteht, als mit den abgebrannten Brennelemente angeliefert wird. Die radioaktiven Nuklide, die von Sellafield ins Meer gepumpt werden (z.B. Technetium-99) sind noch an der norwegischen und grönländischen Küste nachweisbar.

Die Debatte über die von La Hague ausgehenden gesundheitlichen Risiken haben seit der im Januar 1997 im British Medical Journal erschienenen Studie des Mediziners Jean-François Viel und den Greenpeace-Messungen im März 1997 eine nicht abreißende Diskussion in den französischen Medien in Gang gesetzt. Nach den Analysen sind die inneren Ablagerungen der Pipeline so hoch verstrahlt, daß sie nach dem derzeitigen deutschen Recht in Zement verpackt und endgelagert werden müßten. Proben von Meeressediment und Rohrablagerungen enthielten derart viel Plutonium, daß diese Proben nach deutschem Recht als kernbrennstoffhaltig einzustufen sind. Auch Proben von Krebsen zeigen, daß die Meeresverseuchung bei La Hague Ausmaße angenommen hat, die mit Kontaminationen nach nuklearen Großunfällen vergleichbar sind.

Ebenfalls 1997 wiesen zwei französische Wissenschaftler in einer Studie den Zusammenhang zwischen den radioaktiven Einleitungen in La Hague und einer erhöhten Blutkrebsrate bei Kindern und Jugendlichen nach. Danach wurde eine im Vergleich zum Landesdurchschnitt um den Faktor drei höhere Blutkrebsrate innerhalb eines Umkreises von 10 Kilometern um die Anlage ermittelt.

Die Regierung ließ den "Souleau-Report" in Auftrag geben, eine Studie, die, so faßte Le Monde zusammen, "den Streit zwischen Greenpeace und der COGEMA", der staatlichen Betreiberfirma, über die Gefahren der Anlage "nicht entscheidet". So konnte Ministerin Voynet den Untersuchungsbericht der Öffentlichkeit auch vorstellen und die Ungefährlichkeit der Atomfabrik behaupten: "Es gibt Radioaktivität in La Hague. Das ist keine Überraschung, wir wußten, daß es Strahlung gibt. Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung..."

Einige Monate später forderte Voynet schließlich, unter öffentlichem Druck durch weitere Greenpeace-Aktivitäten, von der COGEMA, diese müsse sich als Ziel die "Null Einleitung flüssiger radioaktiver Abfälle (in den Ärmelkanal)" setzen. Die COGEMA wies dies als Aufforderung zur Stilllegung von La Hague zurück. In einem Interview mit Charlie Hebdo betonte Voynet kurz darauf, für La Hague würden keine neuen Wiederaufbereitungsverträge abgeschlossen - was bedeuten würde, daß die WAA in zehn bis 15 Jahren leerliefe. So schön diese Ankündigung klingt, zwei Wochen zuvor hatte Voynet nichts dagegen unternommen, als der Staatssekretär für Industrie die Beladung der vier AKW-Blöcke von Chinon mit MOX-Brennstäben erlaubte, die neben dem "normalen" Spaltstoff Uran zusätzlich mit Plutonium aus La Hague gefüllt sind, was ihre Gefährlichkeit erhöht.

Es wurde berechnet, wie hoch die Strahlenbelastung wäre, wenn nur bei einem Becken in einer solchen Anlage Radioaktivität freigesetzt würde. Beim einem derartigen Unfall in La Hague würde in 100 Kilometer Entfernung eine Strahlenbelastung auftreten die 30 bis 230 mal höher wäre als die sofort tödliche Dosis von 600 rem. Je nach Windlage wären große Gebiete Europas nach einer solchen Katastrophe nicht mehr bewohnbar. Millionen Menschen würden sterben.

Ein Beinahe-GAU im Atom-Forschungslabor

Am 10. Januar 2007 war in der Zeitung 'Le Monde' zu lesen:
In einem Plutonium-Forschungslabor im südfranzösischen Cadarache war auf Grund menschlichen Versagens versehentlich die doppelte Menge von Brennstäben in den Versuchsreaktor eingeführt worden und man war dadurch nicht mehr all zu weit von der kritischen Masse entfernt. Das Ganze passierte zwei Monate zuvor im November 2006. Erst im Januar wurde der "Vorfall" auf einer nuklearen Störfallskala, die von 1 bis 7 reicht, nachträglich auf 2 hoch gestuft.

Der Vorfall erinnert an die japanische Nuklearkatastrophe von Tokaimura am 30. September 1999.

Schwerer Atomunfall in Forschungsanlage

Bei dem nach offiziellen Angaben bis dato schwersten Atomunfall in Frankreich werden im Nobember 1992 drei Arbeiter verstrahlt, als sie einen atomaren Teilchenbeschleuniger in Forbach ohne Schutzkleidung betreten. Mitglieder der Geschäftsführung wurden 1993 zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie nicht für ausreichende Sicherheitsmaßnahmen gesorgt hatten.

Doch bereits am 17. Oktober 1969 hatte ein Fehler beim Einführen der Brennstäbe im französischen Saint-Laurent zum teilweisen Abschmelzen eines gasgekühlten Atomkraftwerks geführt. Ein Super-GAU wie in Tschernobyl mit der Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität hatte gerade noch vermieden werden können.

Das geplante Atommüll-Endlager in Bure

In wenigen Jahren wird Frankreich vor einem Atommüllberg von fast 5 Millionen Kubikmetern stehen. Deshalb wurde ein Standort für ein sogenanntes Labor für die Endlagerung hochradioaktiven Mülls in Bure im dünn besiedelten Lothringen ausgesucht. Dort soll der Müll in einer Lehmschicht eingelagert werden. Doch mittlerweile regt sich auch in Bure massiver Protest und mit der Einlagerung konnte bislang nicht begonnen werden. Der französischen Regierung wird dann nichts anderes übrigbleiben als die AKWs abzuschalten oder ein atomares Endlager mit Waffengewalt durchzusetzen. Jedes Jahr im Sommer veranstaltet die französische Anti-Atom-Bewegung ein Festival gegen die Endlagerpläne in Bure.

Neubaupläne

Bereits Ende der 1990er Jahre waren in Frankreich AKW-Neubaupläne ventiliert worden. Es scheint jedoch fraglich, ob solche Pläne ernstlich erwogen wurden oder ob sie nur dazu dienten, um die aktuelle Stärke der französischen Anti-Atom-Bewegung zu ermitteln. Als einziger Neubau wurde ein Reaktor in Carnet an der Loire-Mündung, in einem Naturschutzgebiet, ins Spiel gebracht. Am 1. Juni 1997 - am Tag der Parlamentswahl - demonstrierten 25.000 Menschen gegen einen solchen AKW-Neubau.

Immer wieder hieß es, die französische Anti-Atom-Bewegung sei eingeschlafen. Häufig wird auch in den deutschen Mainstream-Medien der Eindruck erweckt, Frankreich sei eine Nuklear-Nation und die Bevölkerung stünde mehrheitlich für die Atomenergie. Umfragen zeigen dagegen ein anderes Bild: Das Euro-Barometer 2006/2007 ergab für Frankreich mit 56 zu 33 Prozent eine deutliche Mehrheit gegen Atomenergie. Diese Mehrheit war zum damaligen Zeitpunkt sogar größer als in Deutschland (51 zu 37). Im Jahr 2007 sprachen sich 78 Prozent der FranzösInnen dafür aus, dem Ausbau der erneuerbaren Energien Vorrang einzuräumen. Und 58 Prozent waren der Ansicht, daß die Atomenergie bei einem Ausbau der erneuerbaren Ernergien und einer Steigerung der Energieeffizienz leicht ersetzt werden könnte. Nur 37 Prozent waren der gegenteiligen Ansicht. Nach dem 11. März 2011 sind die Mehrheitsverhältnisse in Frankreich noch deutlicher: Laut Meinungsumfragen sprachen sich 2011 über 66 Prozent der FranzösInnen gegen Atomenergie aus.

Mit der 2004 bekannt gewordenen Entscheidung der damaligen Regierung, im Auftrag der EdF eine neue Generation von Atomreaktoren auf den Weg zu bringen, hat das französische Netzwerk für den Atom-Ausstieg, Réseau Sortir du Nucléaire, einen mächtigen Aufschwung erlebt. Am 15. April 2006 demonstrierten über 30.000 Menschen in Cherbourg gegen diese Pläne. Am 17. März 2007 demonstrierten über 60.000 zugleich in fünf französischen Städten für den französischen Atom-Ausstieg und für erneuerbare Energien. Und im Jahr 2012 beteiligten sich am ersten Jahrestag der Reaktor-Katastrophe von Fukushima an der Menschenkette im Rhônetal 65.000 Menschen.

 

NETZWERK REGENBOGEN

 

Anmerkungen

1 Eine Liste der 58 Reaktoren an 19 Standorten:

AKW Belleville 1 und 2

AKW Blayais 1 bis 4

AKW Bugey 2, 3, 4 und 5

AKW Cattenom 1 bis 4

AKW Chinon B 1 bis B 4

AKW Chooz B 1 und B 2

AKW Civaux 1 und 2

AKW Cruas 1 bis 4

AKW Dampierre 1 bis 4

AKW Fessenheim 1 und 2

AKW Flamanville 1 und 2
(Neubau eines dritten Reaktors vom Typ EPR begonnen.)

AKW Gravelines B 1 bis B 4, C5 und C 6

AKW Golfech 1 und 2

AKW Nogent 1 und 2

AKW Penly 1 und 2

AKW Paluel 1 bis 4

AKW St. Alban 1 und 2

AKW St. Laurent B 1 und B2

AKW Tricastin 1 bis 4

2 Siehe auch unseren ausführlicheren Artikel:

      AKW Fessenheim
      30 Jahre tödliche Gefahr (7.03.07)

 

Die übrigen Folgen der Info-Serie:

  1 Grundlagenwissen

  2 Der deutsche "Atom-Ausstieg"

  3 Die Subventionierung der Atomenergie

  4 Der siamesische Zwilling: Atombombe

  5 Umweltverbrechen Uran-Abbau

  6 Uran-Ressourcen und die Zukunft der Atomenergie

  7 Die Geschichte der Atom-Unfälle

  8 Die stille Katastrophe

  9 Der italienische Atom-Ausstieg

10 Schwedens "Atom-Ausstieg"

 

12 Das ungelöste Problem der Endlagerung

 

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