Info-Serie Atomenergie
Folge 10

Schwedens "Atom-Ausstieg"

Stellt euch vor, ein bedeutender europäischer Industriestaat beschließt den Atom-Ausstieg - und am Ende hat das Land mehr Atomkraft als vorher.
Sowas sollte nicht passieren? Stimmt.
Oder ist es etwa schon passiert, und gleich mehrmals nacheinander? Leider ja: Im Land der Elche und der Kiefernholzmöbel, unserem nördlichen Fast-Nachbarn Schweden.

Atomkraftwerke in Schweden

Wie kam das?

Nach dem Zweiten Weltkrieg beschloß das Königreich zur Fortsetzung seiner Neutralitätspolitik ein komplettes zivilmilitärisches Atomprogramm. Die traurigen Reste der Uranbergwerke in Ranstad (zwischen den beiden großen Seen) strahlen heute noch, in Västerås (am Nordufer des Mälarsees, 90 Kilometer westlich von Stockholm) entstand das ASEA-Atom-Werk (heute Westinghouse, im Besitz der BNFL). Den ersten Forschungsreaktor gab's 1954 und von 1964 bis 1974 lieferte das Atom-Heizkraftwerk Ågesta Fernwärme für die Stockholmer Satellitenstadt Farsta. Nachdem die Regierung 1959 auf Atomwaffen verzichtet hatte, konnte 1970 auch der Bau einer Wiederaufbereitungsanlage verhindert werden.

Endlagerproblem "gelöst"

Besonders stolz waren die schwedischen Atomiker, als sie 1979 als erstes Land der Welt das Atommüllendlagerproblem mit der Festlegung der Technik (Wiederaufbereitung in Frankreich, Restmüll in Stahlzylinder in Katzenstreu in Granitstollen) und des Standortes als gelöst erklärten. Genaugenommen hatte man östlich von Insel Sternö an der Südostküste in einen Granitstock probegebohrt. Die Bohrungen trafen auf rissiges Gestein - also legte man fest, daß der Granit zwischen den Bohrungen optimal für die Atommüllagerung geeignet sei. Damit war die Bedingung zur Inbetriebnahme von zwei fertigen Reaktorblöcken formell erfüllt. Der atomkritische Ministerpräsident, Thorbjörn Fälldin von der Centrumspartei, trat zurück. Schweden hatte keine Regierung mehr, aber zwei neue Atomkraftwerke.

"Demokratische" Entscheidung

Bis Ende der siebziger Jahre gingen sechs Reaktorblöcke an den Standorten Oskarshamn, Barsebäck und Ringhals in Betrieb und weitere sechs waren in Bau. Nach dem Unfall 1979 in Harrisburg in den USA konnten die AtomkraftgegnerInnen eine Volksabstimmung über die Zukunft der Atomenergienutzung durchsetzen. Leider hatten die WählerInnen auf den Simmzetteln nicht einfach die Wahl zwischen "ja" und "nein". Stattdessen gab es drei verschiedene Variationen von Jein:

Ergebnisse der Volksabstimmung vom 23. März 1980

18,9 % Linie 1: "Energie für Schweden"
Für Befristung, maximal 12 Reaktoren, bis zur Einführung der erneuerbaren Energien

39,1 % Linie 2: "Ausstieg aus der Kernkraft - aber mit Vernunft!"
Wie Linie 1, plus Energiespar- und Sicherheitsmaßnahmen, keine Elektroheizungen

38,7 % Linie 3: "Atomkraft? Nein danke!"
Für Ausstieg innerhalb von 10 Jahren, nur die bereits vorhandenen 6 Reaktoren

Man konnte dieses Ergebnis also als eine satte Mehrheit von fast 80 Prozent für den Atomaustieg interpretieren - tatsächlich hatte aber die von den Sozialdemokraten unterstützte Linie 2 gewonnen und der beschlossene "Atom-Ausstieg" bedeutete die Verdoppelung der Anzahl der Reaktorblöcke bis 1985. Dann galt ein Kerntechnikgesetz, das den Bau von neuen Reaktoren verbot.

Überkapazität

Da der Stromverbrauch des Landes nicht so stark anstieg wie die Atomiker prognostiziert hatten, wurde der Einbau von Elektroheizungen in Ein- und Mehrfamilienhäusern und öffentlichen Gebäuden und die Ansiedlung von stromverbrauchenden Industrien gefördert, so daß der Pro-Kopf-Stromverbrauch heute weit über den europäischen Durchschnitt liegt. Der Strommix bestand jeweils knapp zur Hälfte aus Atom- und Wasserkraft, etliche Kohle- und Ölkraftwerke wurden für Lastspitzen bereit gehalten. Von den vier AKW-Standorten gehörten zwei (mit insgesamt 7 Reaktoren) ganz oder teilweise dem Staatskonzern Vattenfall und die beiden anderen der Sydkraft-Gruppe.

Deregulierung des Strommarkts

Mit den 90er Jahren und den Vorbereitungen zum EU-Beitritt Schwedens kam die Deregulierung des Strommarkts. Sydkraft wurde von Preußenelektra (heute: E.on) aufgekauft. Die Reservekraftwerkskapazitäten wurden durch den Anschluß an das europäische Verbundnetz überflüssig und deshalb stillgelegt und abgerissen.

Beginn des "Atom-Ausstiegs"

Im Februar 1998 legte die Regierung die Termine für die Stillegung der beiden Reaktorblöcke (mit den hübschen Kosenamen "Bengt" und "Svea") des Kraftwerks Barsebäck fest. Das waren zwar nicht die ältesten Reaktoren des Landes aber die unstrittensten, denn sie stehen in Sichtweite Kopenhagens und die Dänen hatten sich ja gegen Atomkraft entschieden. Barsebäck 1 wurde am 29.11.1999 abgeschaltet, bei Barsebäck 2 zögerte sich die Stillegung noch bis 2005 hinaus. Und da sich eine neoliberale Rechtsauffassung durchgesetzt hatte, nach der ein Investor Anspruch auf Ausgleich für entgangene Gewinne aus seiner Investition hat, forderte Sydkraft von der Regierung den Ausgleich für Gewinne aus dem Rest einer angenommenen Gesamtlaufzeit von 40 Jahren pro Reaktor. Man einigte sich darauf, daß Sydkraft den Ausgleich in Form von Anteilen am Vattenfall-Atomkraftwerk Ringhals bekommt, die die Regierung Vattenfall abkauft. Was macht Vattenfall mit so viel Geld? Na klar: investieren! Man kauft sich also die Hamburgischen Electricitätswerke samt deren Anteilen an den Atomkraftwerken Stade, Brunsbüttel, Krümmel und Brokdorf und damit hat man es mal wieder geschafft: Nach dem Beginn des Atom-Ausstiegs besitzt Schweden mehr Atomkraftwerke als vorher. Und Herr und Frau Svensson, die schwedischen Steuerzahler, müssen das ganze bezahlen.

Atomkonsens nach deutschem Modell?

Natürlich wurde klar, daß das Atom-Ausstiegsprogramm so nicht weitergehen konnte; die Svenssons haben einfach nicht genug Geld um die restlichen zehn Atomkraftwerksblöcke aufzukaufen. Also startete die Regierung 2003 einen halbherzigen Anlauf zu Konsensverhandlungen zum Atom-Ausstieg ohne Entschädigungen "nach deutschem Modell". Wie erwartet kam nichts dabei heraus, denn warum sollten E.on und Vattenfall auf die Ausgleichszahlungen verzichten, die ihnen nach dem Präzedenzfall Barsebäck zustehen?

Und der Widerstand?

Die Schwedischen AtomkraftgegnerInnen können auf glorreiche Zeiten zurückblicken: Zu den Barsebäcksmärschen in den 70er Jahren kamen bis zu 30.000 TeilnehmerInnen und die Bürgerinitiative "Rädda Kynnefjäll" hielt ihre Wachhütte auf einem Endlagerbauplatz fast 20 Jahre rund um die Uhr besetzt, mit dem Erfolg daß das Endlager nun wohl am AKW Oskarshamn entsteht, da sind die AnwohnerInnen anscheinend schon immun gegen Strahlung.

Leistungssteigerungen

Um klarzustellen, wie man sich den weiteren Verlauf des schwedischen "Atom-Ausstiegs" denkt, kündigte Vattenfall zwischen 2004 und 2006 Milliardeninvestitionen zur Modernisierung und zur Erhöhung der Stromproduktion in den Kraftwerken Forsmark und Ringhals an. Zuerst gab's neue Turbinen (von Siemens) mit höherem Wirkungsgrad, und in der zweiten Stufe wurde der Neutronenfluß in den Reaktoren verstärkt. Die Steigerung der Stromproduktion war höher als der Verlust durch die Stillegung der beiden Barsebäcks-Reaktoren und damit war's es wieder mal geschafft: Schweden hätte nach dem Beginn des "Atom-Ausstiegs" auch im Inland mehr Atomstromkapazität als vorher.

Vermutlich als Folge dieses "AKW-Tuning" kam es am 25. Juli 2006 im AKW Forsmark zu einem Beihnahe-GAU. Nach Angaben von Lars-Olov Höglund, der als langjähriger Chef der Konstruktionsabteilung des schwedischen Vattenfall-Konzerns für das AKW Forsmark zuständig war, war das Atomkraftwerk nur noch 7 Minuten von der Reaktor-Katastrophe entfernt: "Es war ein reiner Zufall, daß es zu keiner Kernschmelze kam. (...) Das ist die gefährlichste Geschichte seit Harrisburg und Tschernobyl". Konsequenzen hieraus wurden jedoch bislang keine gezogen.

Perspektiven

Im Januar 2009 war in den deutschen Mainstream-Medien zu vernehmen, Schweden wolle aus dem "Atom-Ausstieg" aussteigen. Die schwedische Regierung habe den Bau neuer Atomkraftwerke angekündigt. Nun handelt es sich hierbei allerdings ebenso um Bluff wie auch schon der schwedische "Atom-Ausstieg" nichts anderes als Bluff war. Denn die schwedische Regierung sagte - ohne daß dies in den Mainstream-Medien erwähnt wurde - zugleich, daß sie keine Subventionen für den Bau neuer Atomkraftwerke zur Verfügung stellen könne. Und in den vergangenen 25 Jahren wurde weltweit kein einziges AKW fertiggestellt, das nicht staatlich finanziert wurde. Von einer "Renaissance der Atomenergie" kann also auch in Schweden keine Rede sein.

Auch wenn ein AKW - nach der Fertigstellung - täglich rund eine Million Euro Gewinn abwirft, werden für den Bau mindestens fünf Milliarden Euro benötigt. Dies bedeutet, daß es erst nach 16 Betriebsjahren profitabel arbeitet. Keine Bank und kein Energie-Konzern interessieren sich für ein solch schlechtes Geschäft.

Leider war nun Anfang 2009 aus den Reihen der deutschen Anti-AKW-Bewegung zu hören, in Schweden drohe ein "Ausstieg aus dem Atom-Ausstieg". Dies ist - wie hier aufgezeigt - in doppeltem Sinne Unsinn. Und es ist nicht nur bedenklich, weil damit die Propaganda vom schwedischen Atom-Ausstieg auch noch bestätigt wird, sondern zudem, weil es die Anti-AKW-Bewegung in eine defensive Position zu manövrieren droht.

Nicht zufällig stammen solche Aussagen von Leuten aus dem Umfeld der Pseudo-Grünen, die auch in Deutschland den Menschen weismachen wollen, hier gäbe es einen Atom-Ausstieg. Damit ist zugleich suggestiv eine politische Ausrichtung verknüpft, statt für den sofortigen Atom-Ausstieg gegen die vermeintliche "Renaissance der Atomenergie" zu kämpfen. Dabei hat selbst der ehemalige US-Präsident George W. Bush in den gesamten acht Jahren seiner Amtszeit unermüdlich die "Renaissance der Atomenergie" angekündigt, ohne daß in den USA auch nur ein einziges AKW gebaut worden wäre.

 

NETZWERK REGENBOGEN
Diese Folge der Info-Serie Atomenergie beruht
in weiten Teilen auf einem Artikel von Bernd Frieboese,
bei dem wir uns hier nochmals bedanken.

 

Die übrigen Folgen der Info-Serie:

  1 Grundlagenwissen

  2 Der deutsche "Atom-Ausstieg"

  3 Die Subventionierung der Atomenergie

  4 Der siamesische Zwilling: Atombombe

  5 Umweltverbrechen Uran-Abbau

  6 Uran-Ressourcen und die Zukunft der Atomenergie

  7 Die Geschichte der Atom-Unfälle

  8 Die stille Katastrophe

  9 Der italienische Atom-Ausstieg

 

11 Atomenergie in Frankreich

12 Das ungelöste Problem der Endlagerung

 

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