Brief vom Außenminister höchstselbst vom April 2000
Die Ereignisse überschlagen sich. Nachdem Joseph Fischers erster Damm gebrochen war und die Bezeichnung Volmer-Erlaß obsolet wurde, war die Definitionshoheit dahin. Der "grüne Übervater" sah sich gezwungen, sein wochenlanges Schweigen zu brechen und sich selbst zur Visa-Affäre zu äußern. Doch dies geriet nicht zum erhofften "Befreiungsschlag".
Dieselben Medien, die "Joschka" über Jahre hin als "beliebtesten Politiker Deutschlands" hofiert haben, registrierten nun plötzlich hellwach, daß entscheidende Fragen in Fischers Statement offen blieben. Vorgestern noch zauderte die Union, wollte im Visa-Untersuchungsausschuß des Bundestages zunächst Richter, Staatsanwälte und Mitarbeiter von Botschaften vernehmen, um Munition gegen das nun offenbar auch von den Mächtigen in den Konzern-Etagen zum Abschuß freigegebene edle Wild zu sammeln. Doch heute sind die Pläne bereits über den Haufen geworfen. Unions-Fraktionsgeschäftsführer Volker Kauder hat es jetzt mit einer Vernehmung des Außenministers vor dem Visa-Untersuchungs- ausschuß eilig. "Joseph Fischer wird früher vernommen als bisher geplant," titelte die 'Süddeutsche', die nun plötzlich für den Außenminister nicht mehr den Kosenamen "Joschka" verwendet.
Nicht ganz so heftig wie früher der Abgeordnete Fischer-Frankfurt die Kohl-Regierung angriff ("Alkoholiker-Versammlung"), stellt die Union den jetzigen Außenminister und bläst zum Halali. Als Polit-Profi müßte Fischer wissen, wie "gefährlich das Spiel ist" ('spiegel'), müßte Fehler unumwunden eingestehen und beweisen, daß er seine Behörde im Griff hat. Seit bald sechs Jahren ist "Rot-Grün" an der Regierung, doch einen Untersuchungsausschuß, der sich mit der Amtsführung eines Ministers beschäftigt, hat es seither noch nicht gegeben. Unerbittlich registriert der 'spiegel', daß sich Joseph Fischer "eher nervös als souverän" am 14. Februar erstmals kurz den Medien stellte, um zu der von Schleusern tausendfach mißbrauchten Visa-Vergabe-Praxis des Auswärtigen Amtes Stellung zu nehmen.
Auf brisante Fragen wie konkret er vor nahezu fünf Jahren über die Visa-Praxis informiert gewesen sei, erklärte Fischer: "Es waren sehr bewegte Zeiten, wo es um außenpolitisch zentrale Fragen ging, auf die ich mich vor allem fokussiert habe." Obwohl der entscheidende Zeitraum um den März 2000 herum anzusiedeln ist, sahen sich wohlmeinende Blätter wie beispielsweise die 'Badische Zeitung' bemüßigt, für den Außenminister die Rolle des Anwalts zu übernehmen: "Den Chef des Auswärtigen Amtes beschäftigte nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vor allem die Zukunft Afghanistans. Zudem zog die Irak-Krise herauf." Die Grenzen zum fanzine sind fließend.
Gestern meldete die 'Rheinische Post': "Fischer schon im März 2003 über Visa-Missbrauch informiert", und zitierte aus einer Ministervorlage des Auswärtigen Amtes. "Die massenhafte Verwendung dieser Reiseschutzpässe führte zu einer erheblichen Erhöhung der Antragstellerzahlen an den Auslandsvertretungen in den GUS-Staaten. Sie wurden über viele Monate auch von Schleusern und Schleppern mißbraucht, um Visa zu erschleichen", heißt es darin.
Heute nun wartete der frühere baden-württembergische Innenminister Thomas Schäuble mit noch größerem Kaliber auf. Fischer hatte sich höchstselbst für den "Volmer-Erlaß" eingesetzt. Mit Datum vom 30. März 2000 hatte Schäuble in einem Brief an Fischer den Erlaß kritisiert. In einem persönlichen Antwortschreiben vom 18. April erklärte Fischer, der Erlaß habe "keinerlei Änderung der geltenden ausländerrechtlichen Lage" zur Folge.
Daß "Rot-Grün" seit Anfang 2000 permanent mit der Visa-Affäre beschäftigt war, beweist die Regierung mit einer Auflistung der eigenen Tätigkeiten selbst. Bereits im Oktober 1999 erging ein Erlaß an alle diplomatischen Vertretungen in den GUS-Staaten, die Anwendung der vom ADAC als Quasi-Behörde ausgestellten Reiseschutz- versicherungen auszuweiten. Deren InhaberInnen mußten keinen weiteren Nachweis für den Reisezweck vorlegen. Am 3. März 2000 trat der sogenannte Volmer-Erlaß in Kraft, der von Joseph Fischer unterzeichnet ist und der die diplomatischen Vertretungen anwies, im Zweifel für die Reisefreiheit zu entscheiden. Bereits am 9. März sicherte sich Innenminister Schily ab, indem er per Brief an Fischer zu den Akten gab, er sähe den Erlaß im Widerspruch zum Ausländergesetz und zum Schengener Abkommen. Konsequenzen erachtete er aber offensichtlich nicht für nötig. Am 2. Mai 2001 setzte das Außenamt noch eins drauf und wies die diplomatischen Vertretungen an, einen "Reiseschutzpass" des privaten Unternehmers Heinz Kübler zu akzeptieren. Ende Mai 2001 ging die Information vom Innen- ans Außenministerium, daß "Warnungen von Sicherheitsbehörden" vorlägen. Doch auch dies führte bei keinem der beiden Ministerien zu Konsequenzen. Erst im Juli 2001 erklärte das Außenministerium, AntragstellerInnen müßten ab sofort wieder persönlich bei der Visa-Stelle vorsprechen. Doch noch am 29. Januar 2002 - also etliche Monate nach dem 11. September 2001, nach dem angeblich nichts so war wie zuvor - erging ein Erlaß des Fischer-Amtes, wonach die Reiseschutzversicherungen im Ausland direkt verkauft werden durften. Erst im Juni 2002 wies das Außenamt die diplomatische Vertretung in der Ukraine an, Reiseschutzpässe von Heinz Kübler nicht mehr zu akzeptieren. Weiter zehn Monate strichen ins Land bis im April 2003 per Erlaß des Fischer-Ministeriums Reiseschutzversicherungen weltweit nicht mehr anerkannt wurden. Und erst im Juli 2004 sah sich Innenminister Schily bemüßigt, Fischer aufzufordern, Maßnahmen gegen den Mißbrauch bei der Visa-Vergabe zu ergreifen. Offensichtlich war Schily all die Zeit vollauf damit beschäftigt, die angeheizte und anhaltende Hysterie nach dem 11.09.01 ausschließlich dafür zu nutzen, demokratische Rechte abzubauen und ein unvergleichliches Überwachungssystem in Deutschland zu errichten. Am 28. Oktober 2004 endlich erging an alle Auslandsvertretungen ein Bescheid über die Aufhebung des "Volmer-Erlasses".
Diese Auflistung, die zur Entlastung dienen sollte, belastet Außenminister Fischer nun zusätzlich. Denn sie belegt, daß das Außenamt informiert war und konterkariert damit Fischers erste Verteidigungslinie des Nicht-Wissens. Zudem schwoll der Mißbrauch trotz aller Maßnahmen bis 2003 weiter an. Erst 2003 kam es zum Höhepunkt und die deutsche Botschaft in Kiew informierte das Außenministerium, sie werde "überrollt" und der Botschafter höchstpersönlich schrieb von "mafiösen Strukturen".
Da Joseph Fischer sich bereit erklärt hatte, so bald wie möglich vor dem Visa-Untersuchungsausschuß des Bundestages auszusagen, liegt es nun an der SPD einer Änderung des bisherigen Arbeitsplans zuzustimmen. Doch im Gegensatz zur FDP blockt die Kanzler-Partei. "Es geht nicht an, den gemeinsam beschlossenen Arbeitsplan nach Tageslaune umzuwerfen", sagte SPD-Obmann Olaf Scholz. Der tatsächliche Grund dürfte eher darin zu suchen sein, daß nach dem Außenminister und Vize-Kanzler alsbald auch die nächst höhere Charge, Bundeskanzler Gerhard Schröder, ins Kreuzverhör genommen werden könnte.
CSU-Chef Edmund Stoiber hat schon Blut geleckt und erklärte, im Ausschuß müsse auch die Rolle von Bundeskanzler Gerhard Schröder noch sehr genau beleuchtet werden, "weil jetzt feststeht, daß sich Innen- und Außenminister beim Visa-Erlaß am Kabinettstisch diametral widersprochen haben." Von den Fakten her ist das Argument stichhaltig, denn die von Innenminister Schily in den Akten akurat dokumentierten Bedenken und Warnungen ans Außenamt, sind nicht nur ein Zeichen dafür, daß der Innenminister die Vorgänge präzise einzuschätzen wußte, sondern zugleich ein Indiz, daß er vom Bundeskanzler zu Gunsten Fischers ausgebremst wurde.
Harry Weber
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel
Joseph Fischers final flight?
Schröders Treue im Bruch-Test
Volmer nimmt die Rolle des Bauernopfers nicht an
(14.02.05)
Volmer aus der Schußlinie genommen
In wenigen Tagen beginnt Visa-Untersuchungsausschuß (12.02.05)
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Hunderttausende verdient mit "auf dem Schoß sitzen" (10.02.05)
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