Der Fall Daschner wird in Frankfurt verhandelt
Darauf scheint es also hinauszulaufen: Das international als grundlegende zivilisatorische Errungenschaft angesehene Folter-Verbot1 soll in Deutschland mit einem verbalen Kunstgriff ausgehebelt werden: Der Begriff Folter wird nun einfach durch "unmittelbarer Zwang" ersetzt.
Nachdem sich schon gleich zu Beginn der von den Massenmedien gesteuerten Debatte selbst der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes2 für eine Aufweichung des Folter-Verbot ausgesprach und zudem Oskar Lafontaine3 meinte, sich populistisch aufspielen zu müssen, scheint nunmehr eine neue Taktik angesagt zu sein. Obwohl immer wieder behauptet, ist dagegen populus, das Volk, auch gerne Pöbel genannt, gar nicht so populistisch wie die Massenmedien in verräterisch heuchlerischen Ton immerzu warnen. Tatsächlich kam selbst nach monatelangem medialem Weichspülprogramm keine klare Mehrheit pro Folter zustande. Eine gestern veröffentlichte Umfrage von 'Infratest' ergab bei den tückisch gestellten Fragen:
Ist es richtig, durch die Androhung von Gewalt bei Polizeiverhören Aussagen zu erzwingen? - 51 %
Lehnen Sie Drohungen ab? - 43 %
Wäre die Frage nach der Freigabe von Folter statt nach deren "Androhung" gestellt worden, wäre der Anteil der BefürworterInnen sicherlich deutlich unter 50 Prozent geblieben...
Jetzt ist plötzlich auch vor Gericht nicht mehr von Folter die Rede. Wolfgang Daschner, der verantwortliche ehemalige Frankfurter Polizeivizepräsident, versuchte am ersten Verhandlungstag - da er selbst von "Rückendeckung" durch das hessische Innenministerium sprach, darf dies nicht verwundern - statt von Folter von "unmittelbarem Zwang" zu reden, womit dem Verdächtigen gedroht worden sei.
Der Fall wird im übrigen dadurch kompliziert, daß das von Magnus Gäfgen entführte Kind zum Zeitpunkt der Verhöre bereits tot war. Doch dieses Faktum ändert nichts an der Frage, ob Folter beim Verhör eines mutmaßlichen Kindesentführers zulässig ist. Es ändert auch nichts an der Frage, ob Gäfgen zum Zeitpunkt der Verhöre als Verdächtiger oder als "Entführer" (wie in den Medien überwiegend tituliert) anzusehen war. Obwohl Gäfgen gestanden hatte, daß er der Entführer sei, gilt er nach internationalem Rechtsverständnis bis zu einer Verurteilung durch ein ordentliches Gericht als Verdächtiger. Ein Geständnis kann - und dies geschieht nicht allzu selten - widerrufen werden und gilt erst nach der Wertung ("Würdigung") durch ein Gericht als stichhaltiger Beweis.
Das Gerede vom "unmittelbaren Zwang", der beispielsweise bei der Festnahme eines Verdächtigen von der Polizei rechtmäßig angewandt werden darf, ist in diesem Fall ein bewußter Versuch, Grenzen zu verwischen. Es ist unzweideutig, daß sowohl die Drohung als auch die Anwendung von Gewalt beim Verhör eines Verdächtigen nach deutschen und internationalen Rechtsgrundsätzen2 als Folter ohne Ausnahme und absolut ausgeschlossen ist. Hier wird ganz offensichtlich versucht, mit juristischen Falschspieler-Tricks, dem Frankfurter Gericht eine "Brücke zu bauen", um Daschner vor der ansonsten unausweichlichen Mindeststrafe von einem Jahr zu bewahren. Denn nach StGB ist "Aussageerpressung", und hierum handelt es sich in diesem Spezialfall von Folter exakt, ein Verbrechen, das mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist.
Wolfgang Daschner hatte sich, als der Fall hohe emotionale Wellen schlug, selbst an die Öffentlichkeit gewandt. In dieser Situation, gedeckt durch das hessische Innenministerium, meinte er sich als Befürworter der Folter outen zu müssen. Selbstverständlich berief er sich auf eine Notfallsituation, eine "Grauzone", in der Folter erlaubt sei oder erlaubt werden müsse.
Doch nun weicht Daschners Verteidigung in mehrfacher Hinsicht von der zuvor gemutmaßten Taktik ab. Im 'spiegel' war bereits zu lesen, Daschner werde seine Verantwortung auf Vorgesetzte abwälzen. Zunächst hatte Daschner auch erklärt, er habe am Abend vor dem entscheidenden Verhör Gäfgens mit seiner vorgesetzten Behörde, dem hessischen Innenministerium, telefoniert. Das Ministerium habe keine rechtlichen Bedenken gegen die von ihm geplante Vorgehensweise erhoben. Nun betont Daschner allerdings, er habe sich von dort keine "Rückendeckung" geholt. Eine konkrete Person hat Daschner zudem bislang nicht benannt. Dennoch bleibt so - von beiden Seiten - unbestritten, daß Daschner die Information über sein Vorgehen ans Innenministerium weitergab und von dort offenbar nicht gestoppt wurde. Damit ist klar, daß bei einer Verurteilung Daschners auch weitere "Köpfe rollen" werden. Die politische Verantwortung trägt Hessens Innenminister Volker Bouffier, der auffällig in der Deckung verweilt.
Entsprechend dem Motto "Nach oben buckeln und nach unten treten", schiebt Ex-Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner seinem Untergebenen, dem mitangeklagten Hauptkommissar Ortwin Platz den Hauptteil der Verantwortung zu. Daschner behauptet nunmehr, auch gegenüber Platz von der Androhung "unmittelbaren Zwangs" gesprochen zu haben. Er habe Platz lediglich angewiesen, Gäfgen erneut zu befragen und diesem mit "unmittelbarem Zwang" zu drohen. Daschner schob bei seiner Aussage vor Gericht ausdrücklich nach, "unmittelbarer Zwang" sei im Polizeialltag nicht unüblich, so etwa beim Umgang mit Randalierern. Daschner fügte dies sicherlich nicht an, weil er meinte, dem Frankfurter Landgericht Nachhilfe in Hinblick auf die polizeiliche Praxis erteilen zu müssen. Und ein kleiner Ausrutscher war wohl unvermeidlich, bei dem Daschner das ungeliebte Wort denn doch über die Lippen kam: Als er erklären wollte, daß deren Gleichsetzung "absurd" sei, mußte er von unmittelbarem Zwang und - Folter sprechen.
Das Urteil der 27. Großen Strafkammer des Frankfurter Landgerichts wird für den 20. Dezember erwartet.
Klaus Schramm
Anmerkungen
1 Siehe die Dokumentation
Das Verbot von Folter im deutschen und internationalen Recht
2 Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Mackenroth erklärte gegenüber dem Berliner "Tagesspiegel" am Mittwoch, 19.02.03: "Es sind Fälle vorstellbar, in denen auch Folter oder ihre Androhung erlaubt sein können, nämlich dann, wenn dadurch ein Rechtsgut verletzt wird, um ein höherwertiges Rechtsgut zu retten." (Kurz darauf geriet er allerdings unter heftigen Druck geraten, von verschiedenen Seiten wurden Rücktrittsforderungen und alsbald revidierte er seine Aussage zumindest teilweise.)
3 Siehe auch unseren Artikel
Und Toilettenpapier färbt doch ab
Zu Lafonaines Pro-Folter-Kolumne vom 3. März (8.03.03)
Ergänzung
SPD-Justizministerin Brigitte Zypries erklärte: Die Frankfurter Polizei sei im "rechtfertigenden Notstand" gewesen. Auch von etlichen Hohes-C-PolitikerInnen gab
es ähnlichen Nonsense zu hören. Einer der wenigen, die sich wohltuend abhoben, war
der damalige baden-württembergische Innenminister Thomas Schäuble (CDU), der jüngere Bruder von Wolfgang Schäuble, der unmißverständlich Stellung bezog: "Für Folter gibt es keine
Rechtfertigung." Der Staat müsse zwar Zähne zeigen, aber Folter sei ein "Giftzahn" für den Rechtsstaat.
Siehe auch
Inquisition - Zur neuen Diskussion über Folter (23.02.03)