23.07.2006

Minusrente ist schon
längst Realität

Bundesverfassungsrichter Papier träumt

Am 17. Juli warnte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier in einem Beitrag in der 'Welt' vor der "Minusrente". "Rentenbeiträge kommen in eine verfassungsrechtliche Problemzone, wenn das eingezahlte Kapital regelhaft bei weitem das übersteigt, was der Einzelne später an Leistung erhält." Ja, träumt der Mann?

Längst wird auch von sogenannten RentenexpertInnen umstandslos erklärt, die BeitragszahlerInnen dürften nicht erwarten, mehr ausgezahlt zu bekommen als sie einbezahlt haben. Tasächlich ist das heute bereits bei den meisten Rentnern und insbesondere den Rentnerinnen der Fall.

98 Prozent der Rentnerinnen erhalten bereits heute Renten unter 900 Euro - also unter der Pfändungsfreigrenze. 62 Prozent sogar unter 450 Euro. Von den Rentnern erhalten immerhin die Hälfte unter 900 Euro. Eine Schande für ein reiches Land wie Deutschland.

Und wie sieht die Bilanz - nicht für den imaginären Durchschnittrentner, sondern - für RentnerInnen mit der Durschnittsrente von 831 Euro1 aus?

Die durchschnittliche Lebenserwartung von Arbeiterinnen liegt heute bei 70 Jahren, von Arbeitern bei 68,5 Jahren. Wenn das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht wird, muß entweder die Durschnittslebensdauer kräftig ansteigen oder für viele war die Einzahlung der Rentenbeiträge für die Katz. Minusrente? Für viele läuft es auf eine nahezu vollständige Enteignung hinaus.

Gehen wir zur Berechnung mal von vier Jahren Rente - zwischen 65 und dem Tod mit 69 Jahren - aus. Bei der Durchschnittsrente werden also 4 mal 12 mal 831 Euro ausbezahlt. Das sind 39.888 Euro. Dem stehen einbezahlte Rentenbeiträge von - ohne Zinsen - insgesamt rund 100.000 Euro gegenüber. Ein Minus von 60.112 Euro. Wenn das nicht längst als "Minusrente" zu bezeichnen ist, was dann?

Vielleicht befürchtet Herr Papier aber auch nur, daß es ihm selbst schon bald genauso ergehen könnte?

Wie war es möglich, daß eine solche massenhafte Enteignung der kleinen Leute in Deutschland ohne nennenswerten Widerstand über die Bühne gehen konnte? Jahrelang wurde propagiert "Die Rente ist sicher". Es wurde zwar gescherzt, der damalige "Arbeits"-Minister Norbert Blüm, der sich zu solcher Rede genötigt sah, meine lediglich seine eigene Rente. Doch so richtig ernst nahm vor 10 Jahren noch kaum jemand das Thema. Und mit der "rot-grünen" Koalition und der Einbindung der Gewerkschaften mit Hilfe von Herrn Riester, war es möglich, die Enteignung über das undurchsichtige Modell der "Riester-Rente" zu verschleiern.

Die gesetzliche Rente, die im 19. Jahrhundert von den Gewerkschaften und der damals noch real sozialdemokratischen Partei gegen den damaligen Kanzler Bismarck 1889 erkämpft wurde, wird seit den 1970er Jahren Schritt für Schritt zerstört. Bismarck hatte gehofft, mit der Einführung der Invaliden- und Altersversicherung "in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung (...) erzeugen zu [können], welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt." Dies war ihm nicht vergönnt. Es dauerte immerhin bis 1914 bis die SPD durch innere Korruption zerstört werden konnte.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das alte System der Sozialversicherungen auf die BRD übertragen. Die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens wurden jedoch nicht umgesetzt, wonach ein einheitliches Sozialversicherungssystem für ganz Deutschland geschaffen werden sollte, in welchem die Unterschiede zwischen ArbeiterInnen und Angestellten "ohne Rücksicht auf die Höhe des Einkommens" abgeschafft werden sollten.

1956 entsprach die Durchschnittsrente nur einem Drittel des Arbeitslohns. Durch den Druck der Gewerkschaften (nicht durch einen imaginären Einfluß der "Systemkonkurrenz - wie von altlinker Seite immer wieder behauptet wird) konnte 1957 die dynamische Rente durchgesetzt werden. CDU und SPD stellten sich zwar - im Vergleich zu heute - als sozial dar, hatten aber lediglich die Funktion, den zwischen den Kräften von Kapital und Arbeit austarierten Kompromiß in Gesetzesform zu gießen. Von nun an wurde das Rentenniveau stetig angeglichen und erreichte in den 70er Jahren mit einer Rentenhöhe von rund 70 Prozent des Nettolohns den Höhepunkt dieser Entwicklung. Die Klassengesellschaft der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit hatte sich tatsächlich in eine "nivellierte" - und entsolidarisierte - Schichtengesellschaft transformiert. Doch der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital war in der "Mittelstandsgesellschaft" nicht aufgehoben, sondern nur verschleiert.

Die Wende kam mit der Wirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre (und nicht etwa wie von altlinker Seite nicht selten behauptet mit dem Fall der Mauer 1989). Hohe Produktivitätszuwächse hatten zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf die damals erschreckende Zahl von über einer Million geführt. SPD-Kanzler Helmut Schmidt gewann die Wahl 1976 unter anderem mit dem Versprechen, die Renten seien sicher. Zu dieser Aussage sah er sich wegen verbreiteter Zweifel angesichts rückläufiger Beitragszahlungen genötigt. Doch bereits wenige Wochen nach dem Wahlsieg - RentnerInnen waren weit überwiegend Unions-WählerInnen - beschloß die "rot-gelbe" Regierung, die anstehende Rentenerhöhung um ein halbes Jahr zu verschieben. Und in den folgenden Jahren sanken die Rentenanpassungen von Jahr zu Jahr.

Unter der "schwarz-gelben" Regierung des CDU-Kanzlers Helmut Kohl wurden die Renten 1983 durch die Einführung der Krankenversicherungspflicht für RentnerInnen unsichtbar gekürzt. Ihr Wahlverhalten hatte den RentnerInnen also nichts genützt. Scheibchen für Scheibchen wurden die Leistungen in den folgenden Jahren weiter gekürzt. Immerhin stiegen die Renten noch real - wenn auch nicht mehr gekoppelt an die Lohnentwicklung. So ließen sich die Menschen den schleichenden Einstieg in den Sozialabbau gefallen.

Doch die Zweifel an der Stabilität des Systems wuchsen. So sah sich "Arbeits"-Minister Norbert Blüm 1997 gezwungen, einmal mehr die Sicherheit der Rente zu beschwören, während er zugleich den "demographischen Faktor" in die Rentenformel einbaute. Dies sollte dann ab 1999 (ab 1998 regierte dann "Rot-Grün") dazu führen, daß die Renten noch langsamer steigen sollten - unter Berücksichtigung der Preissteigerung sanken sie real in den meisten der letzten Jahre. Beim sogenannten "Eckrentner" (einer Berechnungsgröße) sank bezogen auf 45 Versicherungsjahre das Rentenniveau von 70 auf 64 Prozent des Nettolohns.

1998 konnte der SPD-Kanzlerkandidat und niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schöder die deutschen RentnerInnen im Wahlkampf mit dem Versprechen ködern, den demographischen Faktor rückgängig zu machen, die Kürzungen der Renten seien "unanständig". Doch statt einer Verbesserung wurde es schlimmer. Der Blüm-Faktor blieb bestehen und "Rot-Grün" setzte den Sozialabbau unter dem Schlagwort "Reform" fort. In einer "Jahrhundertreform" wurde festgelegt, daß die Beiträge zu Rentenversicherung bis 2020 maximal auf 20 Prozent, bis 2030 maximal auf 22 Prozent steigen dürfen. Ein Geschenk ans Kapital und ein Versprechen auf Arbeitsplatzzuwächse durch Senkung der Lohnnebenkosten.

Flankiert wurde diese weitere Demontage durch die Einführung der Riester-Rente. Die Versicherten sollen nun eine zusätzliche, alleine und nicht mehr paritätisch (das heißt je zur Hälfte von Kapital und Arbeit) finanzierte, private Rentenversicherung abschließen. Hierzu sollen sie 0,5 Prozent des Bruttolohns im Jahr 2001, 1 Prozent im Jahr 2001, 1,5 Prozent im Jahr 2002 und ansteigend in jedem Jahr um 0,5 Prozent bis auf 4 Prozent im Jahr 2008 einbezahlen. Alles immmer schön sachte nach der Methode "Frosch im Kochtopf".

Aus Steuermitteln soll der Staat bis zu 50 Prozent - maximal aber nur 400 Euro - dazuzahlen. Nach den Plänen der "rot-grünen" Bundesregierung werden dann im Jahr 2030 die Versicherten 15 Prozent, die Unternehmen jedoch maximal 11 Prozent aufbringen. Eine paritätische Finanzierung zu 11,8 Prozent wurde als "nicht finanzierbar" dargestellt. Damit war die Aufgabe der paritätischen Finanzierung der Renten besiegelt. Mit einem weiteren schleichenden Umbau hin zur privat finanzierten Rente ist zu rechnen.

Weiter wurde die "Jahrhundertreform" durch folgende zusätzliche Regelungen unübersichtlich und schwer zu durchschauen gestaltet: Mit einem Ausgleichsfaktor für "Neurentner" sollte ab 2011 ein jährlicher Abschlag von 0,3 Prozent bis insgesamt 6 Prozent im Jahr 2030 eingeführt werden. Dieser Abschlag würde dann bereits zu einer Absenkung des Rentenniveaus auf 61 Prozent führen. Und außerdem ist vorgesehen, einen "Altersvorsorgeanteil" (Riester-Faktor) in die Rentenformel einzufügen. Damit werden dann - unabhängig davon, ob sich die Leute eine private Rentenversicherung überhaupt leisten können - fiktive Aufwendungen für diese vorweg vom Einkommen abgezogen. Auch dies ein "Anreiz", die nicht gerade euphorisch angenommene "Riester-Rente" den Menschen aufzuzwingen. Real führte dies zu einem weiteren Abschlag von der jährlichen Rentenanpassung. Unterm Strich hätte ist diese "Reform" also zu einer tieferen Absenkung geführt als der, die in Folge von Blüms "demographischem Faktor" gedroht hatte.

Doch da regte sich Widerstand. RentnerInnen gingen massenhaft auf die Straße. Mehrere Gewerkschaftsführer kritisierten Riester und warnten vor koordinierten Kampfmaßnahmen. Die Gewerkschaftsbasis machte Druck. Doch bereits im Sommer 2000 signalisierte die DGB-Führung Gesprächsbereitschaft - lediglich nach außen gab sich der DGB kämpferisch. Der damalige IGM-Vorsitzende Zwickel und Vorstandsmitglied Schmitthenner kritisierten Schröder und Riester öffentlich. Das gesamte Rentenkonzept sei "gänzlich inakzeptabel".

Doch kurz vor Weihnachte 2000 handelten Schröder, Riester und einige wenige Gewerkschaftsfunktionäre einen Kompromiß aus. Die IG Metall verteilte daraufhin Handzettel, auf denen es hieß: "Das kann sich sehen lassen! Der Ausgleichsfaktor ist vom Tisch. Es bleibt dauerhaft bei einem Rentenniveau von 67 Prozent." Das 'Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften' kommentierte dies im Frühjahr 2001: "Zehntausende haben sich seit November letzten Jahres zu Protestversammlungen in Betrieben und zu Kundgebungen in der Öffentlichkeit versammelt. Trotz der Regierungspropaganda, trotz der Vernebelung durch die Medien und trotz der voreiligen Absegnung der Riesterpläne durch den DGB-Vorsitzenden und andere. Entgegen der Darstellung von DGB und IG Metall wurden den Rentenplänen der Regierung an keiner einzigen wichtigen Stelle die 'Giftzähne' gezogen. (...) Trotz dieses bisher nie dagewesenen An- und Eingriffs in die wichtigste Säule unseres Sozialversicherungssystems hat die Regierung mit den Vorsitzenden der IG Metall, IG BCE, DAG und ÖTV vor Weihnachten Einigung erzielt. Dies widerspricht der Beschlußlage fast aller DGB-Gewerkschaften."

Damit war der Umbau des Rentensystems und der Einstieg zur Privatisierung der Rente durchgesetzt. Und seitdem gehen die Rentenkürzungen unvermindert weiter: Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente, Erschwerung des Zugangs zur Erwerbsminderungsrente, Belastung der Betriebsrenten mit dem vollen Beitragssatz für die Krankenversicherung, Übergang zur "nachgelagerten Rentenbesteuerung" (also eine verdeckte Steuererhöhung), Belastung der Renten mit dem vollen Beitragssatz zur Pflegeversicherung, Wegfall der Anrechnungszeiten für Schul- und Hochschulausbildung, Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung von 0,9 Prozent für Zahnersatz und Krankengeld und schließlich Nullrunden in den kommenden Jahren für einen sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor, wonach potentielle Rentenkürzungen mit potentiellen Rentenerhöhungen verrechnet werden sollen. Real werden damit die Renten Jahr für Jahr weiter abgesenkt. Nach verschiedenen Berechnungen ist so ein Rentenniveau von 52 Prozent im Jahr 2030 programmiert.

Völlig unnötig und ungeschickt war bei all dieser Salamitaktik also der Vorstoß Münteferings, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhen zuwollen. Tatsächlich bedeutet dies für viele schlicht verlängerte Arbeitslosigkeit auf ALG-II-Niveau und der wahrscheinliche Tod vor der Rente. Doch wenn es dann nicht ganz so schlimm kommt und der Sozialabbau weiter scheibchenweise vorgenommen wird, sind viele wieder beruhigt und lassen es sich dieses Spiel weitere Jahre gefallen.

 

Harry Weber

 

Anmerkung

1 Die Zahl von 831 Euro monatlich (Durchschnittsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung) basiert auf den Angaben des Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie, 2005)

Siehe auch unsere Beiträge:

      '20.000 RentnerInnen protestieren'
      in Berlin gegen Sozialabbau' (17.05.04)

      'Kapitalismus oder Demokratie?' (1.05.05)

      'Wir müssen den Gürtel enger schnallen' (30.03.06)

      'Gesundheitsreform ist Hartz VI' (17.07.06)

 

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