6.04.2012

Günter Grass löst Sturm der Entrüstung aus
Hat Grass recht?
Ist Grass antisemitisch?

Günter Grass löst Sturm der Entrüstung aus Der Schriftsteller und Literatur- nobelpreisträger Günter Grass protestierte am Mittwoch mit einem Gedicht gegen die Lieferung eines deutschen U-Bootes ans israelische Militär. Grass befürchtet einen Angriff Israels auf den Iran, bei dem es zum Einsatz von Atomwaffen kommen könnte. Von verschiedenen Seiten und insbesondere in den deutschen Mainstream-Medien wurde Grass Antisemitismus vorgeworfen.

In den meisten Reaktionen auf die Veröffentlichung von Günter Grass wird kaum auf den Text Bezug genommen, sondern es werden Behauptungen formuliert, die Grass lediglich unterschoben werden, um diese alsdann kritisieren oder gar als antisemitisch brandmarken zu können. Hier daher zunächst der Text von Günter Grass im Wortlaut.

1. Hat Grass recht?

Günter Grass protestiert gegen die Lieferung eines vom Kieler Rüstungs-Konzern HDW produzierten U-Bootes ans israelische Militär. Diese Lieferung wurde von der deutschen Bundesregierung genehmigt. Das U-Boot ist speziell fürs israelische Militär mit vergrößerten Abschuß-Schächten ausgestattet, so daß es als Träger für Mittelstrecken-Raketen mit Atomsprengköpfen eingesetzt werden kann. Nun ist dies nicht die erste derartige Lieferung (siehe unseren Artikel vom 20.03.12) und Grass hat es verabsäumt in den vergleichbaren Fällen in den Jahren 1999 und 2000 gegen die "rot-grüne" Bundesregierung unter Gerhard Schröder zu protestieren. Nun, Grass betätigt sich seit den Zeiten von Willy Brandt als "S"PD-Wahlhelfer... Dennoch wird sein gegenwärtiger Protest dadurch nicht falsch.

Die deutsche Bundesregierung verstößt - nicht nur - mit dieser Lieferung zum wiederholten Mal gegen die eigenen Export-Richtlinien. Darin heißt es unter anderem, daß das Empfängerland nicht in einem Spannungsgebiet liegen dürfe und daß der "Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland bei den Entscheidungen über Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern besonderes Gewicht beigemessen" werden müsse. Daß es sich bei Israel und dem Nahen Osten um ein Spannungsgebiet handelt, ist kaum zu bestreiten. Schließlich kommt es dort seit vielen Jahren immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen. In solche Regionen dürfen keine Kriegswaffen geliefert werden. Auch der Verhaltenskodex der Europäischen Union, dem die Bundesrepublik Deutschland vertraglich verpflichtet ist, verbietet dies.

Grass behauptet, die israelische Regierung beanspruche "das Recht auf den Erstschlag" gegen den Iran, bei dem das iranische Volk "ausgelöscht" werden könne. Tatsächlich sprachen hochrangige VertreterInnen der israelischen Regierung in den vergangenen Monaten wiederholt davon, mit einem "Präventivangriff" die Atomanlagen im Iran vernichten zu wollen. Begründet wird dies mit der Sorge, das iranische Regime strebe den Bau der Atombombe an und es stehe möglicher Weise unmittelbar vor der Fertigstellung von Atomwaffen. Wie ernst auch immer diese Sorge ist: Bei einem Angriff des israelischen Militärs auf iranische Atom-Anlagen würde es sich mit Sicherheit nicht um einen Angriff mit Atomwaffen, sondern um einen mit konventionellen Bomben und möglicherweise speziellen bunkerbrechenden Waffen handeln. Bei einem solchen Angriff würden unmittelbar zwar vermutlich tausende Menschen zu Tode kommen - die Existenz des iranischen Volks wäre allerdings zunächst nicht bedroht. Wahrscheinlich würde jedoch ein Gegenangriff des iranischen Militärs erfolgen. Eine Eskalation des Konflikts zu einem Krieg und schließlich der Einsatz der israelischen Atombomben, wobei eine großflächige Zerstörung des Iran nicht mehr auszuschließen ist, rückt damit in den Bereich des Denkbaren. Weiter könnte etwa durch ein Eingreifen des muslimischen pakistanischen Regimes ein Nuklearkrieg ausbrechen, Indien könnte sich angegriffen fühlen und ebenfalls seine Atomwaffen einsetzen, China...

Die Möglichkeit eines mehr oder weniger unbeabsichtigt ausgelösten atomaren Weltkrieges ist seit dem Beginn der atomaren Aufrüstung der USA und der UdSSR (29. August 1949) und weiterer sieben Staaten gegeben, auch wenn dies gerne aus dem Bewußtsein verdrängt wird. In Übereinstimmung mit bedeutenden WissenschaftlerInnen und PhilosophInnen wie etwa Erich Fromm oder Robert Jungk muß festgestellt werden, daß sämtliche Regierungen, die sich im Besitz von Atomwaffen befinden und die ausnahmslos keine ernsthaften Anstrengungen unternehmen, diese Waffen abzurüsten, von einer gefährlichen Form des Wahnsinns befallen sind. Um die Menschheit vom Alptraum der nuklearen Vernichtung zu befreien, wäre es dringend nötig, daß die Regierungen der Staaten USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea und Deutschland ("atomare Teilhabe"), die über die Atombombe verfügen, endlich darangingen, die Arsenale von weltweit insgesamt über 30.000 Atomsprengköpfen abzubauen.

Grass schreibt, der Bau einer Atombombe werde im Machtbereich des iranischen Regimes "vermutet". Nun behauptet zwar Regierungs-Chef Mahmud Ahmadinedschad, der Iran verfolge kein Programm zum Bau von Atomwaffen. Und auch das "geistliche Oberhaupt" des Irans, Ayatollah Ali Chamenei, erklärte mehrfach, sein Land strebe nicht nach der Atombombe. Die historische Erfahrung lehrt jedoch, daß noch die Regierung jedes Staates, in dem mit dem Bau von Atomkraftwerken begonnen wurde, früher oder später versuchte, in den Besitz der Atombombe zu gelangen. Die jüngste Veröffentlichung der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA), die dem Iran Arbeiten an der Entwicklung von Atomwaffen unterstellt, ist allerdings wenig fundiert und bietet keine Beweise für ihre Anschuldigung. Hingegen hat selbst der US-amerikanische Geheimdienst CIA jüngst eine Expertise vorgelegt, wonach im Iran derzeit nicht an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet werde.

Grass bezeichnet Ahmadinedschad in seinem Text als einen "Maulhelden", was dessen Gefährlichkeit verharmlost. Zwar hat der Iran in den 33 Jahren seit dem Sturz des Diktators Schah Reza Pahlewi, der im Dienste der USA stand, keinen einzigen Krieg begonnen. Doch die Tiraden Ahmadinedschads gegen den israelischen Staat sind - auch wenn es sich bei der häufig zitierten Formulierung "Israel von der Landkarte tilgen" um eine Fälschung handelt - so offenkundig haßerfüllt, daß Sorgen und Ängste in Israel verständlich sind.

Völlig korrekt ist die Kritik von Günter Gras, daß Israel über ein wachsendes nukleares Potential verfügt, das "seit Jahren - wenn auch geheimgehalten - außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich" ist. Grass übersieht hierbei jedoch, daß solche Kontrollen, wie sie etwa von der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA), einer Lobby-Organisation der Atomindustrie, in vielen Ländern durchgeführt werden, kaum etwas zur Sicherheit der Menschheit beitragen. Das beste Beispiel sind die USA: Im September 2011 wurde bekannt, daß die US-Atombehörde 2.700 Kilogramm hochangereichertes Uran vermißt, das zum Bau von Atombomben geeignet ist (siehe unseren Artikel vom 16.09.11). Unbestreitbar ist, daß der Umgang mit der Atomenergie - gleich ob im Bereich der Stromerzeugung oder im militärischen Bereich - stetig die Gefahr erhöht, daß weiterhin Atomwaffen produziert werden und daß extrem gefährliche Waffen in die Hände von TerroristInnen gelangen können. Dies gilt selbstverständlich auch für das iranische sogenannte friedliche Programm zum Bau und Betrieb von Atomkraftwerken. Das von vielen Regierungen weltweit proklamierte Recht auf die "friedliche Nutzung der Atomenergie" ist nichts anderes als Wahnsinn.

Wie von der Friedensbewegung in vielen Ländern - auch in Israel - gefordert, ist es dringend nötig, daß eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten unter Einschluß Israels und des Iran verwirklicht wird. Dies ist allerdings nur realistisch, wenn gleichzeitig der Verzicht auf die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie von den Völkern gegen ihre eigenen Regierungen durchgesetzt werden kann. Dabei hat die israelische Regierung trotz der Veröffentlichungen von Mordechai Vanunu im Jahr 1986 in der britischen 'Sunday Times' (siehe unsere Artikel vom 24.05.10 und vom 21.04.04) die Existenz der israelischen Atombombe bis heute weder offiziell eingestanden noch dementiert und ist auch dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten. Wenn dem iranischen Regime vorgeworfen werden kann, daß es sich effektiven Kontrollen der IAEA entziehe, muß zugleich festgestellt werden, daß die israelische Regierung jegliche IAEA-Kontrollen verweigert.

Grass fragt: "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?" Nicht nur wegen der extrem belasteten und belastenden Geschichte Deutschlands und dem einzigartigen, industriell betriebenen Mord an Millionen Juden und Jüdinnen, darf die israelische Regierung nicht für ihre atomare Hochrüstung kritisiert werden, ohne zugleich die anderen Atommächte zu benennen. Es muß gleichzeitig zur Sprache kommen, daß es nicht nur in der israelischen Regierung, sondern weltweit in mindestens acht weiteren Regierungen ebensolche Wahnsinnigen gibt, die sehenden Auges einen Atomkrieg riskieren. Gänzlich falsch ist die Formulierung vom "brüchigen Weltfrieden", denn von Frieden kann auf diesem Planeten selbst dort, wo gerade kein Krieg ist, noch längst nicht die Rede sein. Dies zeigte sich nicht zuletzt in Europa in den 1990er-Jahren auf dem Balkan.

Völlig zurecht wendet sich Grass von der "Heuchelei des Westens" ab. Dabei wäre in diesem Zusammenhang nicht nur das bei Partei-PolitikerInnen und Mainstream-Medien weit verbreitete Schweigen über die israelische Atombombe zu nennen, sondern auch die Heuchelei, die darin besteht, daß im Falle Israels und des Iran ganz offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird.

Bei aller Ungenauigkeit der Formulierungen und der holzschnittartigen Vereinfachungen des kurzen Textes von Günter Grass - im Kern hat er recht: Er fordert von den Deutschen, nicht länger die Augen zu verschließen vor einem möglichen "Präventivangriff" Israels auf den Iran. Er warnt vor einem Krieg, an dem Deutschland durch seine U-Boot-Lieferung mitschuldig würde.

2. Ist Grass antisemitisch?

Selbstverständlich kann niemand Günter Grass in den Kopf schauen und so muß sich die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, Grass sei antisemitisch, an eine Analyse des vorliegenden Textes halten.

Es spielt nun auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung eine Rolle, denn einer der Vorwürfe lautet, es gehöre "zur europäischen Tradition, die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmords anzuklagen."

Die Meldung über die deutsche U-Boot-Lieferung ging Ende März durch die Medien, so daß der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gedichtes durch Grass am 4. April hiermit ausreichend erklärt ist. Und solange kein Indiz genannt wird, daß Grass mit seiner Veröffentlichung auf das in diesem Jahr auf den 8. April terminierte Oster-Fest / Pessach-Fest abzielte, ist eine solche Unterstellung unbegründet.

Nun arbeitet dieser Vorwurf zugleich mit der Konstruktion, Grass werfe der israelischen Regierung bei der nun eben nicht etwa verheimlichten Planung eines "Präventivangriffs" auf iranische Atomanlagen religiöse Motive vor. Dies ist aber ebensowenig am Text zu belegen. Es ist nicht einmal zu belegen, daß Grass der israelischen Regierung unterstellt, die Vernichtung der iranischen Bevölkerung zu planen oder bewußt in Kauf zu nehmen. Konkret heißt es im Text:

- "was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde"
- "das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das (...) iranische Volk auslöschen könnte"
- "allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können..."
- "gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden"
- "Verursacher der erkennbaren Gefahr"

Absurd ist die Unterstellung, Grass klage "die Juden" des Ritualmordes an, nicht zuletzt deshalb, weil Grass nicht etwa gegen ein schon geschehenes Verbrechen protestiert, sondern gerade an die israelische Regierung appelliert, auf Gewalt zu verzichten.

Immer häufiger wurde in den vergangenen Jahren Kritik an der israelischen Regierung pauschal als antisemitisch verunglimpft. Es gab zwar Fälle, bei denen sich Menschen mit einer antisemitischen Einstellung hinter dem Vorwand versteckten, ihr Kritik richte sich allein gegen die israelische Regierung und nicht gegen alle JüdInnen. In solchen Fällen muß der Vorwurf des Antisemitismus jedoch klar nachgewiesen werden und darf nicht einfach nur auf Verdacht verkündet werden.

Grass schreibt in seinem Text ausdrücklich, er sei Israel verbunden und wolle dies auch bleiben. Wer dieses Bekenntnis als Lüge und als lediglich vorgeschoben versteht, ist um so mehr in der Pflicht, das Verdikt des Antisemitismus am Text nachzuweisen.

Ein weiterer Vorwurf, mit dem Grass eine antisemitische Tendenz unterstellt wird, lautet: Die Vorstellung, Israel wolle den Iran auslöschen ist abstrus. Doch auch dieser Vorwurf geht am Text vorbei. Grass klagt die israelische Regierung keiner bewußten Intention an, den Iran auslöschen zu wollen. Außerdem kritisiert Grass die israelische Regierung und keineswegs alle JüdInnen, zumal selbst in Israel keine Mehrheit hinter dem geplanten "Präventivangriff" gegen den Iran steht. Doch viele, die allzu vorschnell mit dem Vorwurf des Antisemitismus hantieren, scheinen nicht zwischen der israelischen Regierung und der gesamten israelischen Bevölkerung unterscheiden zu können.

Daß die israelische Regierung einen "Präventivangriff" gegen den Iran vorbereitet, ist kaum zu leugnen. Ende Januar erschien in der 'New York Times' ein Artikel unter der Überschrift: "Wird Israel den Iran angreifen?" Der Autor, Ronen Bergman, ein politischer Analyst der israelischen Zeitung 'Yedioth Ahronoth', schreibt darin, er sei aufgrund von Insider-Informationen davon überzeugt, daß das israelische Militär noch in diesem Jahr den diskutierten "Präventivangriff" auf iranische Atomanlagen ausführen werde. Das israelische Militär habe sich "in beispielloser Weise auf einen Angriff auf den Iran vorbereitet." Auch der US-amerikanische Kriegsminister Leon Panetta äußerte kürzlich seine Überzeugung, wonach es "sehr wahrscheinlich ist, daß Israel im April, Mai oder Juni gegen den Iran losschlagen wird - bevor er, wie Israel es nennt, in eine »Immunitätszone« eintritt und beginnt, eine Atombombe zu bauen."

Zurecht wird Grass vorgeworfen, daß er mit der Bezeichnung Ahmadinedschads als "Maulhelden" diesen verharmlost. Auch schreibt Grass allein von Israel als dem "Verursacher der erkennbaren Gefahr". Doch auch Einseitigkeit ist kein Indiz und schon gar kein Beweis, daß Grass antisemitisch sei.

Daß Grass "der Atommacht Israel" vorwirft, sie gefährde den Weltfrieden, sei eine "Dämonisierung Israels"? Auch die USA und die UdSSR wurden zu Zeiten des Kalten Krieges dafür kritisiert, daß sie mit ihrem atomaren Wettrüsten einen Dritten Weltkrieg riskierten, der den gesamten Planeten unbewohnbar macht - auch dies "Dämonisierung"? Zugleich sei der Vorwurf von Grass eine "Delegitimierung Israels". All diese Unterstellungen deuten eher darauf hin, daß diejenigen, die Grass des Antisemitismus bezichtigen, ein Problem mit Kritik an Israel haben, als daß dies Indizien für ihre Bezichtigung wären.

Grass wird unterstellt, er bestreite "das Recht Israels auf Selbstverteidigung". Auch dies ist mit dem Text von Grass nicht zu belegen - oder ist etwa der von der israelischen Regierung angedrohte "Präventivangriff" die einzig mögliche Form von Selbstverteidigung? Solche Vorwürfe könnten ebenso gut gegen Grass erhoben werden, wenn er dieses Gedicht nie geschrieben hätte. Wie haltlos diese Angriffe gegen Grass tatsächlich sind, muß den AnklägerInnen selbst gedämmert haben, denn in diesem Zusammenhang sprechen sie lediglich von "sekundärem Antisemitismus". Das hört sich zwar wissenschaftlich an, hat jedoch weder Hand noch Fuß.

Da Grass in seinem Text recht weitschweifig darüber räsoniert, warum er bisher geschwiegen habe, wird ihm unterstellt, er versehe sich auf diese Weise mit der Aura des Mutigen. Selbst wenn dem so sei - die hierauf aufbauende Argumentation basiert auf einem puren Analogieschluß: Da auch AntisemitInnen gerne ihre Angriffe auf Israel als "mutig" inszenieren, sei auch die Selbstinszenierung von Grass ein Ausweis seines Antisemitismus. Ebenso wenig sind alle IslamkritikerInnen, die sich selbst für mutig halten, IslamhasserInnen.

Und ebenso wenig hat Antisemitismus mit der Frage zu tun, für wie bedrohlich für die Existenz Israels "das iranische Atomprogramm" - was auch immer hierunter zu verstehen sein mag - eingeschätzt wird. Es ist durchaus ein Antisemit denkbar, der sich - ganz unabhängig von den Tatsachen - ein geheimes iranisches Programm zum Bau von Atombomben herbeiphantasiert und sich dabei darüber freut, wie nahe doch Israel vor der Vernichtung stehe, und der es subjektiv als mutig empfindet, wenn er dies öffentlich äußert. Daher gehen auch alle Spekulationen, Grass verharmlose die Bedrohung durch "das iranische Atomprogramm" schlicht und ergreifend an der Frage vorbei, ob Grass antisemitisch sei.

Völlig blödsinnig ist nebenbei bemerkt die Äußerung: "Wer diese Bedrohung verharmlost, der betreibt Realitätsverweigerung."

Tatsächlich ist die iranische Propaganda gegen Israel hochgradig haßerfüllt und inakzeptabel. Welche Bedrohung für Israel aber real ist und welche für den Iran, ergibt sich aus den Tatsachen, daß Israel eine Atommacht ist, die über 200 bis 300 Atombomben verfügt, während der Iran bislang höchstwahrscheinlich nicht einmal Pläne zum Bau von Atomwaffen verfolgt. Auch ein Angriff des Iran auf Israel mit konventionellen Waffen ist derzeit jenseits aller Plausibilität.

Manche der AnklägerInnen gegen Grass wollen Anklänge zu antisemitischen Stereotypen in den im Text verwendeten Begriffen "Schweigen" und "Mitschuld" heraushören und konstruieren einen Zusammenhang mit dem Deutschland vor 1945. In einem Kommentar für die sogenannte Bild-Zeitung warf der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, Grass vor, "politisch korrekten Antisemitismus" zu verbreiten: "Er versucht, die Schuld der Deutschen zu relativieren, indem er die Juden zu Tätern macht." Auch scheint das Wort "auslöschen" im Denken derer, die in der Kombination dieses Wortes mit dem Iran sofort Antisemitismus zu erkennen meinen, ausschließlich für Israel reserviert zu sein. Ebenso willkürlich ist es, eine Assoziation zwischen den Begriffen "Weltfrieden" und "Weltjudentum" zu spinnen - entsprechend dieser Logik wäre auch jeder Mensch, der das Wort "Weltkrieg" benutzt ein Antisemit.

Ein ähnliches Argumentationsmuster verfolgt der Anwurf, Grass habe behauptet, die Juden seien auch nicht besser als es die Nazis waren, nämlich Kriegstreiber und Völkermörder. Hätte Grass dies tatsächlich behauptet - im Text gibt es hierfür keinen Anhaltspunkt - wäre dies tatsächlich ein Beleg für Antisemitismus: Denn eine Relativierung des Holocaust und zugleich eine infame Beschuldigung der Juden gehören zum Kernbereich eines antisemitischen Weltbildes.

Doch Grass benennt in seinem Text die "Verbrechen, die ohne Vergleich" sind und den "nie zu tilgenden Makel" seiner Herkunft, was doch gerade nicht für die Annahme spricht, er wolle etwas relativieren oder gar für die Annahme, er sei ein Antisemit. Völlig perfide würde schließlich die Konstruktion, ihm zu unterstellen, er täte eben dies, weil er so seinen Antisemitismus zu bemänteln trachte. Auf diese Weise jedoch kann jede Person des Antisemitismus bezichtigt werden, gleich ob sie dies sagt oder auch das Gegenteil.

Im Text von Grass geht es auch nicht um ein allgemeines Schweigen, sondern ganz konkret um das verbreitete Schweigen über das Atomwaffenarsenal Israels. Und es ist offensichtlich, daß Grass in der Befürchtung richtig lag, wenn es schrieb: "...der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt »Antisemitismus« ist geläufig." Es ist offensichtlich, auch weil nahezu alle Antisemitismus-AnklägerInnen gegen Grass es vermeiden, die Atombombe Israels zur Sprache zu bringen.

Auch der Vorwurf, der Text wäre in der rechtsradikalen 'National-Zeitung' gut platziert gewesen, ist nicht stichhaltig. Denn eine Aussage muß noch lange nicht falsch sein, nur wenn sie Neo-Nazis in den Kram paßt.

Wieder ein anderer Vorwurf lautet, Grass habe einen "hanebüchenen moralischen Vergleich zwischen Iran und Israel" vorgenommen. Auch hierfür gibt es keinen Anhaltspunkt im Text. Nicht wenige der Grass-KritikerInnen scheinen darauf zu spekulieren, daß den LeserInnen der Text von Grass nicht vorliegt. So auch der ehemalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der Grass unterstellt, "Israel und Iran auf eine gleiche moralische Stufe zu stellen."

Und schließlich empörte sich der deutsch-jüdische Historiker Michael Wolffsohn, in dem Gedicht finde sich "so ziemlich jedes antisemitische Klischee, das man aus der rechtsextremen Ecke kennt." Doch solange Wolffsohn der Öffentlichkeit vorenthält, was er denn an Formulierungen fand, die er für "antisemitische Klischees" erachtet, bleibt auch dieser Anwurf ohne Gehalt.

Es wurde die Frage aufgeworfen, warum Grass Israel vorwerfe, es bedrohe den Weltfrieden, nicht aber der Iran. Auch dies ist nichts weiter als eine Konstruktion, die lediglich auf der unterschobenen Prämisse beruht, daß entweder Israel oder der Iran eine solche Bedrohung darstelle. Lassen wir einmal dieses "entweder-oder" weg: Auch wenn Grass in seinem Text nichts über das Bedrohungspotential des Iran schreibt, heißt dies keineswegs, daß er ein solches leugnet. Und selbst wenn er ein solches nicht zu erkennen imstande wäre, könnte daraus allenfalls eine gewisse Naivität in Bezug auf den Iran oder auch generell gegenüber AraberInnen geschlossen werden. Doch nur bei dem gerade bei bedingungslosen Israel-ApologetInnen verbreiteten Entweder-Oder-Denken, einem verbreiteten Feind-Freund-Denken, fällt eine Sympathie mit den "Feinden Israels" in eins mit Antisemitismus.

Ebenfalls auf einem Entweder-Oder-Denken beruht der Anwurf, Grass stelle die "Bedrohungslage" auf den Kopf und vertausche "Opfer und Täter". Ganz abgesehen davon, daß sich am Ende herausstellen könnte, daß nur ganz wenige sowohl auf israelischer als auch auf iranischer Seite Täter waren und auf beiden Seiten die Opfer weit überwiegen - die Betrachtungsweise von den "Tätern und den Opfern" unterschiebt unausgesprochen eine Faktizität, wo es lediglich um Meinung geht. Zugleich wird eine Bedrohung Israels durch den Iran als Fakt postuliert und der Iran als Täter, obwohl noch nicht einmal ein Angriff auf Israel mit einer iranischen Atombombe erfolgt ist, geschweige denn, daß der Bau einer solchen überhaupt nachgewiesen wäre.

Auch der Titel des Gedichtes "Was gesagt werden muß" wurde in die antisemitische Ecke gerückt. Nun ist zuzugestehen, daß die Formulierung fatal an Stammtischgerede wie etwa: "Das wird man doch noch sagen dürfen" erinnert - und diese Sprachwendung wiederum steht nicht selten im Zusammenhang mit antisemitischen Äußerungen. Aber auch hierbei handelt es sich lediglich um eine Assoziations-Kette und nicht um logische Schlußfolgerungen.

Von all den Anwürfen gegen Grass, er habe einen antisemitischen Text veröffentlicht, ist kein einziger stichhaltig. Es bleibt also nicht einmal der Schatten eines rationalen Arguments übrig. Auch der langjährige Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor, wies den Antisemitismus-Vorwurf gegen Grass zurück: "Ich halte Günter Grass weder für einen Antisemiten noch für einen Feind Israels."

Bemerkenswert ist auch der 'Tagesschau'-Kommentar von Thomas Nehls: "Empörend, ja beängstigend ist nicht der Vorstoß von Günter Grass, sondern das Bündel der meisten Berliner Reaktionen. (...) Und dann ist da noch die ausdrückliche Warnung vor weiteren ungezügelten U-Boot-Lieferungen an Israel. Auch über den möglichen Mißbrauch dieser Gefährte ist viel zu lange im Windschatten der Weltpolitik geschwiegen worden."

Ob Grass allerdings die politische Diskussion in Deutschland mit seinem Gedicht voran gebracht hat, wird sich erst noch zeigen müssen. Möglicherweise geht der Kern seiner Aussage hinter einer Wand von hysterischen Antisemitismus-Vorwürfen und aufgeregten Text-Exegesen unter. Entscheidend wird vermutlich sein, ob es der deutschen Friedensbewegung gelingt, die Kritik an der deutschen U-Boot-Lieferung ins Zentrum der Debatte zu rücken.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe unsere Artikel zum Thema:

      Deutsches U-Boot für israelisches Militär
      Atomwaffen-fähig (20.03.12)

      Iranisches Regime spielt mit dem Feuer
      Kriegsschiffe im Mittelmeer (18.02.12)

      Vorlage für Terrorismus
      US-Atombehörden verschlampen 2,7 Tonnen Bomben-Uran
      (16.09.11)

      Atombombe und Wahnsinn
      "..., weil sie das Leben nicht lieben" (Erich Fromm) (6.08.11)

      Panzer für die Saudi-Diktatur?
      Öl oder Demokratie (2.07.11)

      Sarkozy und die Atombombe
      für Gaddafi (23.02.11)

      Rüstungsindustrie blüht
      auch in der Weltwirtschaftskrise (21.02.11)

      Streit der atomaren Irren
      Neue Sanktionen gegen den Iran (9.06.10)

      Der britische 'Guardian' enthüllt:
      Israel bot dem südafrikanischen
      Apartheid-Regime Atomwaffen an
      Federführend: der heutige
      israelische Präsident Schimon Peres (24.05.10)

      Atom-Deal der Irren aus der zweiten Reihe
      Ausweg für den Iran? (17.05.10)

      Abrüsten durch Aufrüsten?
      Obama gibt 80 Milliarden US-Dollar für Atomwaffen
      (15.05.10)

      Die Gefahr einer iranischen Atombombe
      Die IAEA und dubiose Geheimdienst-Dossiers (19.02.10)

      Verbrecherische Menschenversuche
      bei französischen Atombomben-Tests (17.02.10)

      Westen reagiert auf Verhandlungsangebot des Iran
      mit verschärften Drohungen (9.02.10)

      Ahmadinedschad kompromißbereit
      Lösung im Streit um Uran-Anreicherung? (3.02.10)

      Rüstungsexporte: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland
      Steigerung auf 5,78 Milliarden Euro (15.12.09)

      Blackout in Brasilien
      "Das sicherste Stromnetz der Welt" und die Atombombe (11.11.09)

      US-Regierung bricht Schweigen
      über Israels Atombombe (11.05.09)

      Vanunu endlich frei
      (21.04.04)

      Israels Spiel
      mit der Atombombe (23.03.04)

      Gedanken zu Hiroshima
      von Robert Jungk (6.08.03)

      Atombomben
      in Deutschland (12.03.01)

Siehe auch unseren Hintergrund-Artikel:

      Der siamesische Zwilling: Atombombe
      Info-Serie Atomenergie - Folge 4

 

neuronales Netzwerk