30.08.2004

Artikel

Den Aufschwung
fordern?

Die "Speckjahre" der frühen BRD werden in diesem System nie wiederkommen, denn das kapitalistische Deutschland kann die Massenarbeitslosigkeit so wenig loswerden, wie die Schildkröte ihren Panzer. Während die Regierenden aller Parteien, durch die Tatsachen getrieben, längst heimlich die Grenzen des Systems zu Kenntnis genommen haben und von Vollbeschäftigung niemand mehr redet, wollen große Teile der Linken es partout nicht glauben. Der Reformismus und sein wirtschaftspolitischer Zwilling, der Keynesianismus, existieren weiter wie Untote.

Georg Fülberth hat einmal geschrieben, daß der Keynesianismus "ohnehin zu allen Zeiten nur ein Gespenst gewesen ist". Aber er fügte hinzu, "Gespenster haben bekanntlich die Doppeleigenschaft, daß sie zugleich tot und unsterblich sind". Dabei hat der Keynesianismus den Praxistest nie bestanden. Selbst der berühmte New Deal führte keineswegs zur Vollbeschäftigung. Das klappte erst, als Roosevelt die USA auf den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg vorbereitete. Das Wirtschaftswunder der 50er und 60er beruhte auf drei Faktoren, die positiv ineinander griffen: die Überwindung der Folgen des Krieges, zugleich das Aufholen des zwischen zwei Weltkriegen entstandenen Rückstands und schließlich die Einbeziehung der BRD in das Wettrüsten. Dieser einmalige, große Boom schürte schier unausrottbare Illusionen in den Sozialstaat.

Die Grundvoraussetzung keynesianischer Programme ist der vom Ausland abgeschirmte Staat, dem staatliche Geldspritzen den Aufschwung beibringen, um Nachfrage und dadurch Produktionssteigerung zu erzeugen. Aber die nationale Ökonomie hat sich längst in eine Weltökonomie aufgelöst, in der es keine deutsche, französische, japanische oder US-Produkte mehr gibt, allenfalls noch chinesische. Die Produktion ist eine internationale geworden, die nicht mehr durch Handel zwischen eigenständigen Produktionsgebieten, sprich Staaten, sondern durch Produktionsketten gekennzeichnet wird. Eine solche globale Produktionskette kann nicht durch den Eingriff eines einzelnen Landes zur Konjunktur hochstimuliert werden.

Zudem: Eine zusätzliche Staatsverschuldung, um mit diesem Geld den Massenkonsum anzublasen, ist bei der bereits drückenden Schuldenlast nicht realistisch. Sie wäre auch kaum mehr als eine versteckte Bankensubventionierung.

Als Marxist habe ich einen weiteren, grundsätzlichen Einwand gegen solche Reformprogramme, wie z.B. den "öffentlichen Beschäftigungssektor" der PDS. Marx unterschied im Kapital zwischen zwei Abteilungen der Reproduktion. Die Abteilung I stellt Produktionsmittel, die Abteilung II im weitesten Sinne "Lebensmittel" (alle Produkte des Lebens der Arbeitenden) her. Aus dem Schema der erweiterten Reproduktion geht dann mit Deutlichkeit hervor, daß die Akkumulation in der Abteilung II vollkommen abhängig und beherrscht ist von der Akkumulation in Abteilung I. Folgt mensch diesem Schema, und ich mache das, dann kann durch ein staatliches Eingreifen in die Abteilung II ("öffentlicher Beschäftigungssektor" ...) kein längerfristiges Anspringen der Konjunktur erreicht werden. Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb der Kriegskeynesianismus die einzige Form des Keynesianismus ist, die je funktioniert hat, denn sie wendet sich direkt an die Abteilung I der Reproduktion.

Sich mit den gesellschaftlichen Grenzen des Kapitalismus zu beschäftigen, ist seltsamerweise bei Marxist/inn/en ein Tabuthema. Zum Beispiel war Rosa Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals" schon immer und ist bis heute ein ungeliebtes Buch. Ein dicker, theoretischer Wälzer, der studiert sein will und dessen Schlußfolgerungen allgemein als falsch gelten. Schon die alte SPD verbot dieses Werk quasi, indem es per PV-Beschluß keine positiven Besprechungen in SPD-Zeitungen geben durfte. Ein für damalige Zeiten unglaublicher, skandalöser Vorgang und der erste Fall in der SPD-Geschichte. Auch in der III. Internationale und den realsozialistischen Länder galt der Band als "pfui", fehlerhaft und desorientierend. So wurde etwa erklärt, Rosa Luxemburg habe darin eine Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus verfaßt, obwohl sie dort in Wirklichkeit fast das Gegenteil schreibt. Ihre Grundthese ist, daß der Kapitalismus dann, wenn er quasi zum Weltsystem wird und die vorkapitalistischen Strukturen und Schichten weitgehend "aufgefressen" hat, er seine schöpferischen Tendenzen immer mehr einbüßen muß und seine Fähigkeit zur erweiterten Reproduktion, zur Ausdehnung der Produktion, immer mehr zurückgehen wird. Kurz: Der Kapitalismus entwickelt sich so gegen eine Grenze, die er weder erreichen noch überwinden kann.

Mensch könnte dies auf die Geschichte des deutschen Kapitalismus anwenden: In der Weimarer Krisenzeit waren immerhin noch 23 Prozent der Beschäftigten in Landwirtschaft und Fischerei tätig und über 34 Prozent Selbstständige, während heute noch 2,7 Prozent in Landwirtschaft und Fischerei arbeiten und die Zahl der Selbstständigen gerade mal 11,3 Prozent beträgt. Kurz, die vorkapitalistischen Schichten - soweit dies aus der Statistik ersichtlich ist - existieren in Deutschland praktisch nicht mehr. Ein Ausdehnen des Kapitalismus in diese Bereiche, wie zur Weimarer Zeit noch möglich, kann heute im Inland nicht mehr stattfinden. Zeitweise wurde das dadurch aufgefangen, daß die Wertmasse der realsozialistischen DDR wie die vorkapitalistischer Bereiche behandelt und verfeuert wurde. Das scheint zu Ende zu sein. Der ökonomische Perspektiven des Kapitalismus in Deutschland werden finsterer. Weltweit ist die Lage des Exportweltmeisters besser, aber auch nicht großartig. Deshalb der Drang den Weltmarkt über alle noch vorhandenen Grenzen auszudehnen.

An diesen kapitalistischen Rahmenbedingungen kommt kein Reformprogramm vorbei, mag es noch so einfallsreich ausgeklügelt sein. Aber diese Bedingungen anzuerkennen und in der Tagespolitik zu berücksichtigen, bedeutet nicht, auf das Sachzwanggerede der Obrigkeit hereinzufallen. Es gibt Tagesforderungen jenseits des Reformismus. Das Dilemma der Linken ist doch gerade, in Kleinarbeit und dem täglichen "Froschmäuse kriegen" hängenzubleiben, im Reformsumpf abzusacken, völlig die Initiative zu verlieren und unkenntlich zu werden. Eine Reformbewegung entwickelt sich nicht weiter, indem mensch sich ihr gleich macht.

Etliche Genoss/inn/en denken scheinbar pragmatisch und meinen: ob Reformforderungen richtig und gesellschaftlich möglich sind, ist mir nicht wichtig. Wir sind weit von einer Realisierung entfernt und damit ist diese Frage theoretisch. Diese Einstellung ist nicht nur unehrlich, nein, sie ist gefährlich, denn da keynesianische Forderungen des abgeschlossenen Nationalstaats bedürfen, machen sie umgekehrt empfänglich für nationalistisches Denken.

Zudem: Ziel keynesianischer Programme ist der Aufschwung, darin sind sie sich mit den anderen bürgerlichen Wirtschaftsprogrammen einig; nur die Strategie wie das zu erreichen wäre, ist entgegengesetzt. Mögen wir auch diese Strategie einnehmend finden, da sie einträglicher für die arbeitende Klasse ist, so bleibt doch die Frage: Teilen wir das Ziel? Wollen wir den Aufschwung? Oder wollen wir nicht eher Reformen, die in die Gesellschaftsstruktur eingreifen?

Wie aber kommen wir der Realisierung dieser Forderungen näher? Wie kommen wir zu einer Bewegung? Sind die Montagsdemos der Anfang einer solchen, oder nur ein Ansatzpunkt, oder selbst das nicht?

Ein 'Jungle-World'-Autor tadelt die Montagsdemonstranten, die nicht das richtige politische Bewußtsein haben. Hätten wir es ihnen beibringen müssen?

Wir sind hier bei einer Grundfrage: Haben wir zunächst den Menschen das richtige Bewußtsein beizubringen und dann werden sie aktiv, oder ist es vielleicht genau entgegengesetzt? Der "gesunde Menschenverstand" und private Erfahrung scheinen die Frage schlagend zu beantworten. Wir haben doch alle erst dazulernen, Grenzen überspringen müssen, bevor wir politisch aktiv wurden. Aber ist es nicht doch umgedreht, kommt nicht doch erst die Aktion und dann das Bewußtsein?

Wenn das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, und der Mensch indem er auf die Natur einwirkt, kurz arbeitet, durch die Natur verändert wird und sich entwickelt, dann gilt das auch für die Gesellschaft. Indem Menschenmengen Aktivität entwickeln, in die Aktion gerissen werden, bringen sie ein politisches Bewußtsein hervor. Für die junge Studentenbewegung nach `68 gehörte dies zur Grunderkenntnis.

Die Montagsdemos werden aber nicht dadurch politisches Bewußtsein entstehen lassen, daß sie mit Agitation berieselt und Flugblättern überschüttet werden. Nichts gegen Infos, aber Denken kommt selten aus "nachbeten". Nur aus der Eigenbewegung könnte dies kommen. Indem etwa Aktionsformen der Arbeiterbewegung, wie Streiks, Besetzungen, usw. benutzt werden, kann die Bewegung an die Tradition der Linken herangeführt werden. Dominieren bürgerliche Formen, wie der Bezug auf Leipzig 1989, wird dies wahrscheinlich weniger der Fall sein.

Dabei könnte der Zusammenschluß von traditioneller Arbeiterbewegung mit aufmüpfigen Erwerbslosen und Niedriglohnbeschäftigten ein bedeutsames Potential entstehen lassen.

Ich weiß, geschichtliche Vergleiche hinken immer, doch im alten Rom entstand nach den großen, niedergeschlagenen Sklavenaufständen noch einmal eine die Gesellschaft erschütternde Bewegung. Der Zusammenschluß von verarmten römischen Bürgern mit Sklaven in einer neuen gemeinsamen Religion war der Auslöser. Stimmt die Analogie und entwickelt sie Kraft?

 

Herbert Steeg

 

Anmerkungen:

Siehe auch unsere Artikel

    'Auferstehung der deutschen Sozialdemokratie?' (5.07.04)

    'Löst Spanien den europäischen Wirtschafts-Crash aus?' (3.07.04)

    'TINA!? Und wie es dazu kommt' (5.02.04)

und die Diskussionsbeiträge

    'Reformieren statt Deformieren
    - Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme' (21.05.03)

      'Demokratisierung statt Reformierung' (11.08.03)

        'ÖSR durch Druck von unten' (20.08.03)

 

neuronales Netzwerk