22.11.2005

CASTOR La Hague - Gorleben
Teil 2
Montag und Dienstag

Montag, 21. November 2005, gegen 2 Uhr morgens:
Der CASTOR-Zug - inzwischen mit rund einer Stunde Verspätung - fährt langsam durch Göttingen. Um 1.42 Uhr kommt es im Göttinger Bahnhof zu einem unplanmäßigen Stop, weil in Weende die Gleise von Atomkraft-GegnerInnen blockiert werden. Eine erste Blockade wird geräumt. Eine zweite ist noch nicht von der Polizei entdeckt. Als diese geräumt wird und der Zug kurz anfährt, gelangen zehn AtomkraftgegnerInnen 100 Meter weiter auf die Gleise, so daß der Zug erneut halten muß und nach deren Räumung erst um 2.13 Uhr weiterfahren kann.

Bei Uelzen ist die Polizei mit der Personalienfeststellung "verdächtiger Personen" beschäftigt und dehnt diese Prozeduren auf rekordverdächtige Länge von über eineinhalb Stunden aus. Der CASTOR-Zug wird dennoch in der Nähe von Uelzen bei Klein Bünsdorf durch eine Blockade-Aktion gestoppt.

In der Nacht von Sonntag auf Montag ist absehbar, daß der CASTOR-Zug Lüneburg nicht vor 4 Uhr morgens erreichen wird. Tatsächlich trifft er erst um 8.13 Uhr im Bahnhof Lüneburg ein. Das letzte Schienenstück zwischen Lüneburg und der Verladestation Dannenberg stellt die Polizei immer wieder vor besondere Herausforderungen. Doch auch die darauf folgende Straßenstrecke, die sich in eine Nord- und eine Süd-Varianten für die auf Sattelschlepper umgeladenen CASTORen teilt, bevor sie ins Zwischenlager Gorleben geschleust werden können, eignet sich sehr gut für vielfältige Blockade-Aktionen. Und bereits kurz nach dem Eintreffen des CASTOR-Zugs in Lüneburg besetzen über 300 Menschen die Gleise bei Harlingen.

Überblick Streckenabschnitt Lüneburg - Dannenberg - Gorleben

Die Schienenstrecke verläuft in einer unübersichtlichen Landschaft, die durch kleine Wäldchen geprägt ist, mal auf einem Damm, mal in einem Einschnitt in Tieflage. Einen solchen Einschnitt bei Harlingen - kurz vor Hitzacker - wählten AtomkraftgegnerInnen für eine Schienen-Blockade (Siehe auch unseren Extra-Artikel 'CASTOR-Blockade in Harlingen'). Die Polizei war darauf offenbar nicht vorbereitet, da sie gewohnheitsgemäß die DemontrantInnen von Süden her erwartete, während einige Hundert sich unbemerkt von Norden her durch den Wald an die west-östlich verlaufende Schienenstrecke hatten heran schleichen können. Zwei mal können die Schienen blockiert und die Fahrt des CASTOR-Zuges verzögert werden.

Erst gegen 11.30 Uhr fährt der CASTOR-Zug am Ortsausgang Harlingen (ungefähr Gleiskilometer 186) im Schritttempo weiter. Gegen 12 Uhr erreicht er die Verladestation Dannenberg. Es erscheint fraglich, ob die Zeit bis zur Dämmerung für das Verladen der CASTORen ausreicht. Erfahrungsgemäß wird die Fahrt auf der Straßenstrecke nicht im Dunkeln angetreten und mit einer Verzögerung bis zum nächsten morgen ist zu rechnen. Tatsächlich dauert das Verladen der 12 CASTORen bis Montag abend gegen 10 Uhr.

Doch noch während die CASTORen in Dannenberg ab Montag Mittag auf Sattelschlepper umgeladen werden, gibt es weitere Aktionen - und zwar auf beiden Straßenstrecken. Bei Quickborn genügt offenbar der Anblick von 'Robin-Wood'-AktivistInnen in der Krone einer an der Straße stehenden Eiche, um den Kovoi zu einem kurzen Halt zu veranlassen. Und in Quickborn muß die Polizei in der Nacht von Montag auf Dienstag einen großen Betonklotz von der Straße räumen, an dem Menschen angekettet sind. In Langendorf - kurz bevor die beiden Strecken-Varianten vor Gorleben zusammentreffen - findet sich plötzlich ein umgebauter Leichenwagen unverrückbar auf dem Asphalt gestandet. Bei Grippel - ebenfalls kurz vor der Straßen-Gabelung - verankeren sich zwei Traktoren, die zusätzlich die mit kubikmetergroßen Betonklötzen gesichert sind, auf der Fahrbahn. Der eine blockiert die Nord-, der andere die Süd-Route.

Die Reifen der Traktoren sind zu allem Überfluß mit Beton gefüllt und mehrere Menschen haben sich - teils in Betonumüllungen - an die Blockadeobjekte gekettet. Der Leichenwagen kann nur von SpezialistInnen der Hamburger Bereitschaftspolizei von der Einheit 'LBP43 TEE' Stück für Stück zerlegt werden, um die angeketteten DemonstrantInnen nicht zu verletzen. An die Traktoren sind sich im einen Fall elf im anderen sechs Menschen gekettet. Die Spezialeinheit, die mit Flex, Schneidbrenner und speziellem Einsatzwagen ausgerüstet ist, benötigte insgesamt mehr als elf Stunden, um die Route für die zwölf Müll-Behälter mit hochradioaktiven Inventar passierbar zu machen.

Zugleich ist die Polizei allein in Gorleben mit über 1000 AtomkraftgegnerInnen beschäftigt, die an zumindest vier Stellen - Ortsausgang Gedelitz, Ortsausgang Laase, Kreuzung zwischen Ortsausgang Laase sowie Ortsmitte - immer wieder die Straße besetzen. Es ist sehr kalt, aber immer wieder werden den DemonstrantInnen Decken, warme Getränke und belegte Brote gebracht. Und in verschiedenen Orten wird die Möglichkeit geboten, sich in der Kirche aufzuwärmen.

Gegen 3 Uhr nachts sind die beiden Trecker und der Leichenwagen beiseite geräumt, gegen 4 Uhr verläßt der CASTOR-Transport die Verladestation Dannenberg.

Der neunte CASTOR-Transport nach Gorleben trifft am Dienstag morgen um 6 Uhr beim Zwischenlager ein. Er war mit insgesamt 60 Stunden und 35 Minuten sogar eine knappe halbe Stunde länger unterwegs als der achte.

Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann bestätigt öffentlich, daß der Polizei die Beseitigung der Hindernisse "durchaus Probleme" bereitet habe; 16.000 Beamte waren nach seinen Angaben bundesweit "zur Durchsetzung des CASTOR-Transportes" im Einsatz - für die Interessen der Atom-Mafia. Der Einsatz wird das Land Niedersachsen erneut rund 20 Millionen Euro kosten. Weil es zugleich auch noch Fußballspiele, ein Skinhead-Konzert und in Hannover den Zapfenstreich für Gerhard Schröder gab, ist die Polizei des Landes nach Aussage des Ministers "schon auch an Grenzen geraten". Und weil die Fußball WM im nächsten Jahr auch in Hannover ausgetragen wird, will Schünemann seinen erschöpften Beamten jetzt eine Auszeit gönnen und CASTOR-Transporte am liebsten erst wieder 2007 zulassen.

Wichtig ist es festzuhalten, daß der Widerstand in den letzten Jahren gegen die CASTOR-Transporte nach Gorleben gewachsen ist. Auffallend war besonders die große Zahl jugendlicher TeilnehmerInnen. Nur indem die Kosten immer mehr in die Höhe getrieben werden, kann dem menschen- und naturverachtenden Treiben ein Ende bereitet und ein Ausstieg aus der Atomenergie nach Italien, Österreich und etlichen anderen europäischen Ländern auch in Deutschland herbeigeführt werden.

'Greenpeace' ließ durch den Nuklearexperten Dr. Helmut Hirsch bei der Verladestation Dannenberg die von den CASTOR-Behältern ausgehende Neutronenstrahlung messen: In zwölf Metern Entfernung ist sie mit 3,45 Mikrosievert pro Stunde noch rund 230 mal höher als die gleichartige natürliche Hintergrundstrahlung. Mikrosievert ist ein Maß für die biologisch schädliche Wirkung der Strahlung. Zwar liegt der Meßwert noch innerhalb des Rahmens des verkehrsrechtlichen Grenzwertes. Dennoch fordert 'Greenpeace', daß die offiziellen Meßergebnisse direkt veröffentlicht werden, damit Begleitpersonal, AnwohnerInnen und DemonstrantInnen wissen, welcher Strahlung sie ausgesetzt werden.

"Jeder Castortransport sendet Strahlung in die Umgebung aus. Begleitpersonal und Demonstranten dieser Gefährdung auszusetzen, widerspricht dem Prinzip des Strahlenschutzes, nach dem eine Strahlenanwendung gerechtfertigt sein muß", sagt Thomas Breuer, Atom-Experte von 'Greenpeace'. "Da heute schon klar ist, daß Gorleben als Endlager nicht geeignet ist, sind die Transporte nicht gerechtfertigt. Ganz im Gegenteil: Irgendwann muß der strahlende Atommüll hier wieder weg geschafft werden." Der Salzstock in Gorleben hat Kontakt zu Grundwasser führenden Erdschichten und ist daher nicht als Endlager für hochradioaktiven Müll geeignet."

Radioaktive Stoffe senden verschiedene Strahlungen aus. Ein Teil der Strahlung wird durch die Stahlwände und die darin eingelassenen Kunststoffstäbe des Castor-Behälters abgefangen. Neutronenstrahlen hingegen durchdringen die Metallwände, haben eine Reichweite von einigen hundert Metern und wirken von außen auf den menschlichen Körper. Die Neutronenstrahlung zählt zu den ionisierenden Strahlungen. Sie besitzt genügend Energie, um aus elektrisch neutralen Atomen und Molekülen positiv und negativ geladene Teilchen zu erzeugen. Dies geschieht zum Beispiel beim Durchgang durch die Zellen des menschlichen Körpers. Die Zellen können dadurch geschädigt werden. Mögliche Folgen: genetische Veränderungen und Krebs. Je höher die Strahlendosis ist, desto wahrscheinlicher ist ein solcher Schaden.

Neben der Neutronenstrahlung wird auch die Gammastrahlung nicht durch die Behälter abgeschirmt. Darüber hinaus würden im Falle eines Unfalls, bei dem der Castor-Behälter beschädigt wird, das Begleitpersonal, Anwohner und protestierende Menschen durch die strahlenden Stoffe selbst noch einer weitaus höheren Strahlendosis ausgesetzt.

Nach Angaben der Sprecherin der 'Bäuerliche Notgemeinschaft', Susanne Kamien, machten vier Ankettaktionen den Straßentransport der zwölf Atommüllbehälter von Dannenberg nach Gorleben für elf Stunden unmöglich. Kamien mußte nach eigenen Angaben im Zusammenhang mit den Ankett-Aktionen einen handgreiflichen Konflikt zwischen Polizeibeamten schlichten. Einem Konfliktmanager der Polizei, der im Umfeld eines Traktors mit daran angeketteten Demonstranten für einen besonnen Einsatz eingetreten sei, hätten zwei Kollegen aus Berlin mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Im Zuge der Auseinandersetzung hätten sich zwei Beamte gegenseitig Strafanzeigen angedroht.

Nach einer Bilanz des Sanitätsdienstes der AKW-GegnerInnen wurden bei den viertägigen Protesten gegen den CASTOR-Transport 14 Demonstranten verletzt, davon vier schwer. Nach Polizeieinsätzen sei ein CASTOR-Gegner mit einem Kieferbruch, ein weiterer mit Verdacht auf Jochbeinbruch ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Eine 15-Jährige schilderte, wie ihr nach der Blockade eines Fahrzeugs der Bundespolizei unweit ihres Elternhauses Pfefferspray ins Gesicht gesprüht wurde. Die Polizei zählte 21 verletzte Beamte, davon "sieben durch Fremdeinwirkung".

Nach Angaben der Rechtshilfe Gorleben wurden bei den Protesten 70 AKW-GegnerInnen von der Polizei vorübergehend in Gewahrsam genommen. In keinem Fall habe es jedoch die für eine Ingewahrsamnahmen notwendige richterliche Bestätigung gegeben, sagte Rechtsanwältin Ulrike Donat.

Kommentar von 'Robin Wood': "Dieser Kraftakt von Tausenden, jedes Jahr im eisigen November wieder mit Mut und Fantasie tagelang gegen den Atommüll zu protestieren, verdient Anerkennung. Es spricht für die Stärke dieser sozialen Bewegung, daß sie nun schon seit über 25 Jahren so viele Menschen mobilisiert.

Die BI-Mitgründerin und langjährige Vorsitzende Marianne Fritzen - inzwischen 81 Jahre alt - betonte zum Abschluß der Aktionen, auch beim neunten CASTOR-Transport in das Zwischenlager Gorleben hätten die Proteste keineswegs an Kraft verloren. Der Widerstand sei im Gegenteil vielfältiger geworden.

 

Ute Daniels

 

Anmerkungen

Siehe unseren Artikel über die ersten Tage des CASTOR-Transports:

    'CASTOR La Hague - Gorleben
    Teil 1 - Die Tage bis Sonntag' (20.11.05)

Weitere Artikel:

    'CASTOR-Blockade
    in Harlingen' (21.11.05)

    'Demo in Lüneburg
    Für realen Atomausstieg und Erneuerbare' (6.11.05)

    'IPPNW: Uranvorräte bestimmen Zeitpunkt
    für "Atomausstieg" - Angeblicher Streit in
    schwarz-roten Verhandlungen ist reine Farce'(31.10.05)

 

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