Unfähig zur Diskussion
In einem Interview mit der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' (FAZ) zeigt sich EU-Kommissarin Cecilia Malmström resistent gegen Sachargumente, die sie von ihrem Vorhaben abbringen könnten. Malmström will die in Deutschland gescheiterte Einführung von Internet-Sperren auf EU-Ebene durchsetzen. Kinderpornographie dient offensichtlich nur als Vorwand.
Politikredakteur Stefan Tomik, der mit Malmström im Auftrag der FAZ sprach, versucht sich den Anschein eines kritischen Interviewers zu geben ("Einspruch!"), vermeidet es jedoch, den zentralen Knackpunkt von Internet-Sperren zur Sprache zu bringen: Es gibt keine Möglichkeit, geheime schwarze Listen, die ausschließlich vom Bundeskriminalamt (BKA) erstellt und verwaltet werden, demokratisch zu kontrollieren. Denn würden solche Sperr-Listen transparent statt geheim gehandhabt, wären sie von vorne herein wirkungslos. Die Einführung von geheimen schwarzen Listen wäre jedoch ein Instrument par excellence, um politische Inhalte im Internet zu zensieren.
FAZ-Journalist Stefan Tomik durfte sich bereits in dem ehemals feministischen Magazin 'Emma' als "Spezialist fürs Internet" präsentieren und (Ausgabe 2/2010) mit einem 4-seitigen (!) und zugleich inhaltlich mehr als dürftigen Beitrag für die Einführung von Internet-Sperren werben.
Doch es geht gar nicht um Kinderpornographie. Wer wirklich Kinderpornographie bekämpfen will, greift zu effektiven Mitteln wie der Löschung entsprechender Internet-Seiten.
EU-Kommissarin Malmström behauptet im FAZ-Interview: "In der Tat haben mehrere Studien gezeigt, daß die Amerikaner nicht sehr effektiv sind beim Löschen. Im vergangenen Sommer hat eine deutsche Internet-Meldestelle 144 kinderpornographische Websites zurückverfolgt, 110 davon waren in Amerika. Man hat versucht, diese Seiten über das Providernetzwerk 'Inhope' zu löschen. Doch auch nach mehr als zwei Monaten waren noch mehr als die Hälfte dieser Seiten online abrufbar."
Banken können heute problemlos durchsetzen - und zwar ohne Zensur-Infrastruktur - , daß Phishing-Seiten im Internet im Schnitt nach vier Stunden vom Provider entfernt werden. Dies belegt eine Studie der Universität Cambridge. Dabei sind Phishing-Seiten häufig in weniger kooperativeren Ländern als den USA gehostet. Deshalb muß inzwischen in aller Schärfe gefragt werden: Weshalb besteht von offizieller Seite kein ernsthaftes Interesse, kinderpornographische Inhalte im Internet zu bekämpfen? Warum wird statt dessen Kinderpornographie als Schein-Argument eingesetzt, um die zu deren Bekämpfung völlig ineffektiven Internet-Sperren einführen zu können?
Im FAZ-Interview wird der EU-Kommissarin unwidersprochen Gelegenheit zu infamsten Unterstellungen gegeben: "Bei Zensur geht es um Meinungsäußerungen. Aber kein Blogger würde wohl behaupten, Kinderpornographie sei von der Meinungsfreiheit gedeckt."
Es ist eine unglaubliche Frechheit, wenn Malmström hier zu suggerieren versucht, die GegnerInnen von Internet-Sperren würden das Sperren von Internet-Seiten mit Kinderpornographie als Zensur bezeichnen. Auch mit dieser Aussage zeigt Malmström, daß sie an einer sachlichen Diskussion und an Argumenten nicht interessiert ist.
Statt mit Unterstellungen zu arbeiten wie "...ich habe den Eindruck, daß viele Kritiker unsere Richtlinie gar nicht genau gelesen haben" sollte EU-Kommissarin Malmström einmal die ePetition an den Deutschen Bundestag lesen, die über 100.000 Menschen innerhalb weniger Wochen unterzeichnet haben. Darin heißt es: "Wir halten das geplante Vorgehen, Internetseiten vom BKA indizieren & von den Providern sperren zu lassen, für undurchsichtig & unkontrollierbar, da die "Sperrlisten" weder einsehbar sind noch genau festgelegt ist, nach welchen Kriterien Webseiten auf die Liste gesetzt werden. Wir sehen darin eine Gefährdung des Grundrechtes auf Informationsfreiheit. (...) Das vornehmliche Ziel - Kinder zu schützen und sowohl ihren Mißbrauch, als auch die Verbreitung von Kinderpornografie, zu verhindern stellen wir dabei absolut nicht in Frage - im Gegenteil, es ist in unser aller Interesse. Daß die im Vorhaben vorgesehenen Maßnahmen dafür denkbar ungeeignet sind, wurde an vielen Stellen offengelegt und von Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen mehrfach bestätigt."
Malmström: "Es gibt überhaupt keinen Grund für diesen Aufstand."
Malmström fragt scheinbar naiv: "Ich verstehe nicht, warum gerade in Deutschland der Widerstand so groß ist"
In Deutschland hat staatliche Zensur und die Kontrolle der Medien - damals insbesondere des Rundfunks - zur Vorbereitung des schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte gedient. Viele MenschenrechtlerInnen in Europa freuen sich daher, daß Deutsche in Fragen der Zensur sich auch heute noch dieser Gefahren bewußt sind und sensibel auf eine Gefährdung des Grundrechtes auf Informationsfreiheit reagieren.
Wir wollen hier nicht unterstellen, daß Malmström Zensur oder gar die Errichtung einer Diktatur beabsichtigt. Es muß jedoch bedacht werden, daß nach einer Veränderung der politischen Machtverhältnisse solche Instrumente, wie es schwarze Listen für Internet-Sperren darstellen, den neuen Machthabern zur Verfügung stehen. Im übrigen begünstigen Instrumente, die eine zentrale Kontrolle der Medien ermöglichen, einen schleichenden Übergang in die Diktatur.
Die EU-Kommissarin versteht es - ohne Nachfrage von Interviewer Tomik - den Eindruck zu erwecken, daß Internet-Sperren in Dänemark und Schweden längst eine Selbstverständlichkeit seien: "... Internetsperren existieren schon in einigen Staaten. Schweden oder Dänemark bringt man aber nicht gerade mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit in Verbindung." Zugleich behauptet sie an einer anderen Stelle des Interviews, ohne dies zu belegen: "Aber es zeigt sich in den Staaten, in denen es schon Sperren gibt, daß sie dort wirken und jeden Tag Zigtausende Zugriffe blockieren."
Malmström ist Schwedin und gehört dort der ehemals liberalen Partei an. Nicht zufällig konnte die Piratenpartei, die sich insbesondere für den Erhalt der Informationsfreiheit im Internet einsetzt, in Schweden bei der vergangenen Wahl einen höheren Anteil der Stimmen erreichen als selbst die "F"DF in Deutschland. Selbst von offizieller schwedischer Seite wurde bestätigt, daß die dortigen Internet-Sperren wirkungslos sind. Entweder kennt Malmström diese Fakten nicht, dann ist sie fehl am Platz - oder sie agiert nach dem Vorbild der deutschen Ministerin Ursula von der Leyen und wirft mit Behauptungen um sich, ohne dafür seriöse Quellen nennen zu können. Diese Taktik hat sich jedoch in Deutschland als nicht überzeugend erwiesen.
Malmström greift im FAZ-Interview auf ein Scheinargument zurück: Daß man mit Internet-Sperren nicht jede Form der Verbreitung von Mißbrauchsbildern verhindern könne, sei kein Grund, auf Netzsperren zu verzichten. Dieses "Argument" der EU-Kommissarin kann mit folgender Aussage verglichen werden: "Auch wenn ich beim Operieren mit einem Revolver nicht alle Krebszellen entfernen kann, ist dies kein Grund, auf den Revolver zu verzichten." Dies legt die Frage nahe: Warum ist der Revolver eigentlich auf meinen Kopf gerichtet?
Das Interview erschien in der FAZ am 13. April unter dem Titel:
EU-Kommissarin Malmström über Netzsperren
"Ich werde als chinesische Diktatorin verunglimpft"
Im Internet ist es zu finden unter:
http://www.faz.net/s/Rub99C3EECA60D84C08AD6
B3E60C4EA807F/Doc~EE3CAE94D5B0D404588AB908
134ABB8BB~ATpl~Ecommon~Scontent.html
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Internet-Zensur nun aus Brüssel?
Vorwand Kinderpornographie und erschreckende
Ignoranz gegenüber Sachargumenten (29.03.10)
Internet-Sperren-Gesetz von der Leyens
soll gestoppt werden (27.12.09)
Demo "Freiheit statt Angst" in Berlin
20.000 gegen Überwachungswahn (13.09.09)
'aspekte'-Sendung mit Kritik an Internet-Sperren-Gesetz
Ex-Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem
äußert schwerwiegende Bedenken (1.08.09)
Internet - Kinderpornographie - Vorwand für politische Zensur
Anhörung im Bundestag (4.06.09)
Internet - Kinderpornographie - Vorwand für politische Zensur
Regierung spricht von Gremium zur Kontrolle des BKA (26.05.09)
Gegen politische Zensur des Internets
Online-Petition gegen Internetsperre
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