Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur gegründet
Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen unterzeichnete heute (Freitag) mit den fünf größten Internet-Providern einen Vertrag über die Einrichtung von Stop-Schildern im Internet. Diese fünf Firmen decken lediglich 75 Prozent des deutschen Marktes ab. Angeblich will von der Leyen auf diese Weise gegen Kinderpornographie im Internet vorgehen und läßt sich als Kämpferin gegen Kindesmißbrauch feiern. Hilft die Aktion wirklich gegen Kinderpornographie? Dient sie lediglich Wahlkampfzwecken? Oder wird damit der Einstieg in eine politische Internet-Zensur bezweckt?
Mehr als 1000 Internet-Seiten, die auf geheimen schwarzen Listen verzeichnet sind, sollen mit Hilfe der Internet-Provider gesperrt werden. Statt Kinderpornographie soll zukünftig dort ein Stop-Schild zu finden sein. Ob die gesperrten Seiten jedoch tatsächlich Kinderpornographie präsentiert haben, ist nicht nachprüfbar, da lediglich das Bundeskriminalamt (BKA) über die entsprechenden Informationen verfügt.
Mit Hilfe der schwarzen Liste, die in Zukunft vom BKA täglich aktualisiert werden müßte, sollen nach Angaben des Bundesfamilienministeriums bis zu 450.000 Zugriffe pro Tag auf kinderpornographische Internetseiten verhindert werden. Diese Zahl geht auf Berechnungen aus Norwegen und Schweden zurück, wo eine solche Maßnahme bereits vor Jahren eingeführt wurde.
Ursula von der Leyen behauptet, mit dieser Maßnahme gegen die immer stärkere Verbreitung von Kinderpornographie im Internet vorgehen zu wollen. Nach Angaben des BKA hat sich die Zahl der Zugriffe auf einschlägige Seiten allein von 2006 bis 2007 mehr als verdoppelt. Gleichzeitig werden die Opfer immer jünger. Zwölf Prozent sind laut polizeilicher Kriminalstatistik jünger als sechs Jahre - im Jahr 2000 waren dies nur für halb so viele. Erst am Donnerstag hatten ErmittlerInnen des Landeskriminalamtes in Stuttgart eine Tauschbörse für kinderpornographische Filme gesprengt. Bundesweit wurden über rund 1000 Internet-Anschlüsse kinderpornographische Darstellungen weiterverbreitet. Weltweit müssen mehr als 9000 Besitzer einschlägigen Materials mit Anzeigen rechnen.
KritikerInnen der Stopschild-Aktion wenden ein, daß eine Internet-Sperre leicht zu umgehen sei. Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages schreibt in einem Gutachten, daß die mit dem Stop-Schild versehenen Seiten mit einem "vergleichsweise geringen Aufwand" trotzdem aufrufen werden könnten.
Ebenso steht der Umweg über ausländische Internetanbieter offen. Hierauf weist die Gesellschaft für Informatik hin und gibt zu bedenken, daß durch Internet-Sperren die Vergewaltigung von Kindern nicht verhindert oder aufgeklärt werde. Sie fordert die Behörden dazu auf, die Anbieter nicht auf eine schwarze Liste zu setzen, sondern strafrechtlich gegen sie vorzugehen.
Einen relativ leicht gangbaren Weg, die heute vereinbarten Internet-Sperren zu umgehen, erläutert der Chaos Computer Club (CCC). Die Seiten sollen über die Namensauflösung der Domains gesperrt werden. Dies läßt sich durch den Eintrag eines alternativen DNS-Servers umgehen, der nicht vom jeweiligen Provider stammt. Im Internet gibt es lange Liste von alternativen DNS-Providern. "Es handelt sich tatsächlich nicht um eine Sperrung im Wortsinn, sondern lediglich um eine Zugangserschwerung. Diese ist leicht zu umgehen, und gerade bei regelmäßig klandestin agierenden Konsumenten von Kinderpornographie wird daher diese 'Sperre' nichts bringen", kritisierte CCC-Sprecherin Constanze Kurz.
Nach einer Studie der Computerzeitschrift c't hat sich die kriminelle Szene längst aus dem öffentlich sichtbaren Teil der Internet verabschiedet - und tauscht das Material lieber in nicht zugänglichen Bereichen des Netzes. Hier können Internet-Sperren nicht greifen. Die Bundesfamilienministerin bestreitet dies.
Am heutigen Morgen protestierten BürgerrechtlerInnen vor dem Bundespresseamt in Berlin gegen die dort publikumswirksam inszenierte Vertragsunterzeichnung. Die DemonstrantInnen trugen Schilder mit der Aufschrift "Zensur ist Täterschutz" oder "Für wirksamen Kinderschutz - gegen Zensur". Sie wiesen auf das "Mißbrauchs-Potential einer geheimen Sperrliste" hin und warnten davor, daß das Thema Kinderpornographie instrumentalisiert werde. Mit schwarzen Listen, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, könne "eine Infrastruktur für das Zensieren von Internet-Seiten" entstehen.
Auch Justizministerin Brigitte Zypries hält die Sperrung von Internet-Seiten für einen problematischen Eingriff in die Grundrechte. Sie befürwortet allerdings eine "klare gesetzliche Grundlage". Am kommenden Mittwoch will das Bundeskabinett daher ein Gesetz auf den Weg bringen, um künftig alle Internetanbieter zu Sperren verpflichten zu können.
Mittlerweile gründeten BürgerrechtlerInnen einen Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur. Die beteiligten Organisationen fordern das Abschalten von Kinderporno-Servern als wirksame Maßnahme. Web-Server, die Bilder und Filme von Kindesmißbrauch verbreiteten, ließen sich einfach aufspüren. Auch nach Ansicht dieser Organisationen lassen sich Internet-Sperren leicht umgehen. Sie warnen zugleich vor den Aufbau einer Zensur-Infrastruktur seitens der Bundesregierung. Zu den Gegnern der Internet-Sperren gehören unter anderem der Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG), der Chaos Computer Club (CCC) und der Verein Mißbrauchsopfer gegen Internetsperren (MOGIS).
Nach Informationen der KritikerInnen sind auf den mittlerweile bekannten schwarzen Listen aus den skandinavischen Ländern, der Schweiz und Australien mehrere Dutzend Web-Seiten zu finden, deren Server in Deutschland stehen und die genau lokalisiert werden können. Die Bundesregierung und das BKA müssen sich daher fragen lassen, warum sie diese bislang nicht abgeschaltet haben.
Eine statistische Auswertung der Filterlisten aus der Schweiz, Dänemark, Finnland und Schweden hat ergeben, daß sich mehr als 96 Prozent der dort gesperrten Seiten auf Servern in westlichen Ländern befinden - vor allem in den USA, Australien, Kanada und den Niederlanden. Es ist wenig plausibel, daß diese Server und ihre Betreiber nicht auf dem Wege der internationalen Kooperation der Strafverfolgungsbehörden aus dem Verkehr gezogen werden könnten.
"Da die Server erst dann auf die BKA-Sperrlisten gelangen können, wenn sie den Ermittlern bekannt sind, gibt es keine Ausrede der Strafverfolger, nicht unmittelbar gegen die Betreiber vorzugehen", so Andy Müller-Maguhn, Specher des Chaos Computer Clubs (CCC). Der CCC fordert daher, anstelle einer Internet-Zensur durch die Hintertür endlich effektive Maßnahmen gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern zu ergreifen. Anstatt das Übel an der Wurzel zu packen, werde nun versucht, durch Druck auf die Internet-Provider eine Infrastruktur für die politische Zensur des Internets zu schaffen. Sobald diese einmal installiert ist, kann sie auch zu politischen Zwecken verwendet werden. Es sei naiv zu glauben, daß eine einmal eingeführte Technik für Zensur in Zukunft nicht für andere Zwecke genutzt wird.
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Aufstehn für ein freies Internet
CCC will "Zensursula" besuchen (16.04.09)
Easterhegg des CCC in Hamburg
Ein Treffen nicht nur für Computerfreaks (13.04.09)
wikileaks.de gesperrt
Beginn der Internet-Zensur in Deutschland? (11.04.09)
Greenpeace in Frankreich bespitzelt
Kam der Auftrag von EdF? (1.04.09)
Hausdurchsuchung bei Inhaber der Domain wikileaks.de
Aktionismus gegen Kinderpornographie
als Vorwand für politische Zensur (25.03.09)
Ohne V-Leute würde NPD zusammenbrechen
Baden-Württembergs Innenminister Rech plaudert (8.03.09)
Bundesverfassungsgericht stoppt Wahl-Computer
Die Manipulierbarkeit von elektronischen Speichersystemen,
'Wikipedia' und Internet-Umfragen (3.03.09)
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