Erfreulicher Weise wird die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in jüngster Zeit immer mehr in der Öffentlichkeit zum Thema. Die Forderung wurde durch den Druck der Verhältnisse auf die Tagesordnung gesetzt, da immer mehr Menschen verarmen, aber auch aufgrund des Druck aus Gewerkschaften und sozialer Bewegung.
Beim Mindestlohn gibt es immerhin eine Kampagne von ver.di, in der LohnarbeiterInnen zu Wort kommen, die Armutslöhne beziehen. Im Bundestag sind Abgeordnete der
Linkspartei vertreten, die sich für einen gesetzlichen Mindestlohn einsetzen.
Doch auf die Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn müssen sich mehr Kräfte konzentrieren.
Aber: Die Forderung von ver.di nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro ist inakzeptabel.
Bei einer 38,5 Stundenwoche ergibt sich ein Monatslohn von 1.250 Euro. Das bedeutet für einen Alleinstehenden 911 Euro netto - bei einem Krankenversicherungsbeitrag von
13,8 Prozent.
Dieser Nettolohn würde im Durchschnitt bei Alleinstehenden einen ALG-II-Anspruch auslösen. Das durchschnittliche ALG-II-Niveau eines Alleinstehenden liegt bei
650 Euro. (345 Euro plus 305 Euro Warmmiete). Bei einem Bruttolohn von 1.250 Euro wäre der pauschalierte Freibetrag 280 Euro. Wenn die Werbungskosten 100 Euro
übersteigen, entsprechend mehr.
Der ALG-II-Bedarf läge also bei 650 plus 280, d.h. bei 930 Euro. Ver.di fordert faktisch einen Kombilohn als Mindestlohn. Der Mindestlohn muß über dem durchschnittlichen
ALG-II-Niveau liegen, nicht darunter.
Es muß zudem gefordert werden, daß für Erwerbslose jede Arbeit unzumutbar ist, mit der man nicht unabhängig von ALG II leben kann. Alles andere würde bedeuten, für die
Ausdehnung von Kombilöhnen einzutreten.
Der Mindestlohn muß aber auch über der Pfändungsfreigrenze von 990 Euro liegen. Es wäre ein schlechter Witz, wenn ein Mindestlohn unter der Grenze liegt, unter der nicht mal gepfändet werden darf, wie es ver.di vorsieht.
Bei einer 38,5 Stundenwoche liegen alle Stundenlöhne unter 8,60 Euro oder unter 1.450 Euro brutto im Monat unterhalb der Pfändungsfreigrenze. Das trifft auch auf die
8 Euro brutto zu, die von der Linkspartei/WASG gefordert werden.
Der Frankfurter Appell tritt für mindestens zehn Euro brutto ein. Das entspricht der Forderung von ver.di aus dem Jahr 2000, fortgeschrieben mit der Inflationsrate. Ver.di
hat im Jahr 2000 noch 3000 DM brutto gefordert. Das waren 1.534 Euro brutto. Seither sind 5 Jahre vergangen. Hochgerechnet mit 8 Prozent Inflationsrate, kommen wir
auf heute 1.656 Euro oder eben zehn Euro brutto bei einer 38,5 Stundenwoche. Die Gewerkschaft NGG hält an einem auf 1.500 Euro brutto umgerechneten und abgerundeten
Mindestlohn fest. Während bei Tariflohnforderungen üblicherweise wenigstens ein Inflationsausgleich gefordert wird plus der Beteiligung am Produktivitätszuwachs,
scheint das für NGG beim gesetzlichen Mindestlohn nicht zu gelten. Im Baugewerbe jedenfalls gilt ein Mindestlohn von zehn Euro brutto für ungelernte Kräfte. Warum
soll es anderswo anders sein?
Ver.di hat die eigene Mindestlohnforderung seit 2000 um 25 Prozent auf 1.250 Euro brutto gekürzt. Die Linkspartei/WASG hat mit ihren 8 Euro brutto die alte Forderung um
20 Prozent auf 1.336 Euro gekürzt.
Die Mindestlohnforderung dermaßen abzusenken, steht in einem krassen Mißverhältniss dazu, daß man sich so massiv über die zu niedrige Binnennachfrage beklagt. Die
ver.di-Führung, die ihre eigene Mindestlohnforderung so zusammengestrichen hat, nimmt das offensichtlich selber gar nicht so ernst. Das Argument mit der Binnennachfrage
scheint mehr dem irrationalen Dogma vom immerwährenden Wirtschaftswachstum geschuldet zu sein.
Es gibt für sie stärkere Beweggründe als die Binnennachfrage. Maßstab ist eher die internationale Konkurrenzfähigkeit. Da wird die nationalistische Komponente
deutscher Gewerkschaftspolitik deutlich. Denn 7,50 Euro ist ein Wettbewerbsvorteil gegenüber Frankreich und Großbritannien, die beide höhere Mindestlöhne aufweisen.
7,50 Euro sind ein Zugeständnis an das Kapital und ein Zugeständnis auch an die SPD, um diese Hartz-IV-Partei zu gewinnen. Bekanntlich sind aber gewerkschaftliche
Lohnforderungen noch nie eins zu eins umgesetzt worden. Wer 7,50 Euro verlangt, kann möglicherweise mit sechs Euro abgespeist werden - wenn das Kapital und seine
Parteien einen gesetzlichen Mindestlohn nicht mehr verhindern können.
Wer an den früheren Forderungen von ver.di, NGG und IG BAU festhalten will, der muß heute für zehn Euro brutto eintreten.
Diejenigen, die den Frankfurter Appell noch verteidigen, sollten eine möglichst starke Kampagne für zehn Euro starten. Das wäre besser als darüber zu debattieren, ob man
dafür oder dagegen ist, sich Kapitalverwertung mit oder ohne freiwillig statt gezwungenermaßen abgeleistete Lohnarbeit vorzustellen oder nicht.
Aber wohlgemerkt: In diesen zehn Euro ist kein Betrag für die Unterhaltungskosten auch nur eines einzigen Kindes enthalten, also des Ersatzes der Arbeitskräfte.
Ein solcher Lohn erkennt nicht einmal an, daß Menschen sich als biologische Lebewesen fortpflanzen müssen wie andere Tierarten auch. Vom Kindergeld allein
kann ein Kind auch nicht leben.
Dennoch erscheinen zehn Euro als hoch, weil jeder sechste Vollzeitbeschäftigte in Westdeutschland mit seinem Lohn darunter liegt.
Schon Adam Smith wußte: "Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muß mindestens so hoch sein, daß er davon existieren kann.
Meistens muß er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen; seine Schicht würde dann mit der ersten Generation
aussterben." (aus dem Buch 'The wealth of nations' zu deutsch: 'Der Wohlstand der Nationen', London 1776, dt. Ausgabe München 1993. Adam Smith war kein Sozialist.
Er war einer der Begründer der Nationalökonomie.)
Wie kann man angesichts dieser Umstände schon eine Forderung von weniger als zehn Euro brutto als Verwirklichung eines menschenwürdigen Lohns bzw. als
Schritt zur sozialen Gerechtigkeit hinstellen? Auch zehn Euro haben mit Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun, denn nach wie vor, würde sich das Kapital an unbezahlter
Arbeit bereichern, nur eben etwas weniger.
Zehn Euro sind ein nur schwer zu vertretender Kompromiß, der ausschließlich der gegenwärtigen Schwäche der Arbeiterbewegung und der erdrückenden Partnerschaft
der Gewerkschaftsführungen mit dem Kapital geschuldet ist.
Wenn man sich aber mit dem Frankfurter Appell auf mindestens zehn Euro geeinigt hat, darf die Forderung nach einem höheren Mindesteinkommen für Erwerbslose diese
Mindestlohnforderung nicht übersteigen. Der Runde Tisch der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisation akzeptiert zehn Euro Mindestlohn und fordert gleichzeitig 850
Euro plus Miete für Erwerbslose. Das ergibt etwa 1.200 Euro netto. Er fordert damit, daß das Grundeinkommen für Erwerbslose höher sein soll als der gesetzliche Mindestlohn.
Denn 10 Euro brutto die Stunde machen nur etwa 1.100 Euro netto aus. Wenn man ein Bündnis zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen anstrebt, muß ein
Grundeinkommen für Erwerbslose auf derselben Höhe oder darunter liegen.
Ein Grundeinkommen für Erwerbslose von rund 1.200 Euro netto würde einem Bruttolohn von 1.900 Euro
entsprechen oder 11,40 Euro Stundenlohn bei einer 38,5 Stundenwoche.
Daß die Bundesregierung die Pläne des Kapitals nur zögernd umsetzt und sogar über gesetzliche Mindestlöhne redet, ist in erster Linie Ergebnis des Widerstands, den
es gibt beziehungsweise der erwartet wird, wenn die Pläne umstandslos umgesetzt würden. Die LohnarbeiterInnen, seien sie beschäftigt oder arbeitslos, sollten ihre
Kraft nicht unterschätzen. Wie das Beispiel Frankreich zeigt, ist es möglich, ein ganzes Gesetz zu Fall zu bringen, wenn Millionen energisch auf die Straße gehen.
Wenn Forderungen wie die nach einem gesetzlichen Mindestlohn von mindestens zehn Euro und die Erhöhung des Eckregelsatzes etwa auf 750 Euro aufgestellt werden,
tönt einem der Chor des Kapitals entgegen, das würde die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwächen.
Und das stimmt auch.
Es ist allerdings fatal, daß die Gewerkschaftsführung diesem Argument nichts entgegenzusetzen hat, sondern es im Gegenteil auch noch nachbetet.
Bezogen auf ein Land als Standort bedeutet Wettbewerbsfähigkeit:
"Die Rentabilität des eingesetzten Kapitals bestimmt (...) maßgeblich (...) die Standortqualität eines Landes." (Deutsche Bundesbank)
Stärkung oder Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit bedeutet also in erster Linie Steigerung oder Senkung der Rendite.
Wenn selbst bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro brutto hunderttausende Arbeitskräfte mehr Löhne bekommen, sinkt die Rendite. Wenn der Druck auf
Lohnsenkungen über die Erhöhung des Regelsatzes abgemildert wird, steht das ebenfalls der Steigerung der Renditen entgegen. Und wenn die staatlichen
Ausgaben für Erwerbslose steigen, wird es schwieriger, die Gewinnsteuern im geplanten Ausmaß zu senken, um so staatlicherseits weiter bei der Erhöhung
der Nettorenditen zu helfen.
Wie hoch muß die Rendite sein, damit Wettbewerbsfähigkeit besteht? Das weiß niemand genau.
Die Wettbewerbsfähigkeit ist auf jeden Fall immer dann nicht ausreichend, wenn die Renditen unterdurchschnittlich sind.
Da aber niemand einen Überblick über die Renditen insgesamt hat, weil sie auf Privateigentümer entfallen, orientiert man sich zunächst an der Konkurrenz. Wenn
Porsche 13 Prozent Rendite hat und DaimlerChrysler nur 4 Prozent, gilt DaimlerChrysler als nicht wettbewerbsfähig. Wenn aber Toyota noch höhere Renditen aufweist,
ebenfalls nicht.
Das Kapital will zumindest eine durchschnittliche Rendite erreichen.
Unterdurchschnittlich bedeutet eigentlich schon "unrentabel". "Das führt immer wieder zu der schwierigen Lage, daß Mitarbeiter auch bei ordentlicher Gewinnsituation
von Unternehmen bei Umstrukturierungen entlassen werden ." (BDI-Präsident Thumann, FTD, 4. April 2005) Eben deswegen, weil die Rendite im Verhältnis zur Renditen
von Konkurrenten zu niedrig ist.
Letztlich kann das Kapital aber mit keinem Stand der Wettbewerbsfähigkeit, d.h. mit keiner Rendite zufrieden sein. Kapital strebt nach einer
möglichst überdurchschnittlichen Rendite. Wer die höchste Rendite weltweit hat, der hat seine Fähigkeit zum Wettbewerb am besten unter Beweis gestellt. Die
Wettbewerbsfähigkeit wäre aber selbst dann zweifellos noch höher, wenn der Abstand der Rendite zur Konkurrenz noch größer würde.
Das Bedürfnis des Kapitals nach Profit ist unstillbar. Die Konkurrenz der Kapitalien untereinander erzwingt das.
Peter Hartz, der Verflossene, immer noch IG Metall-Mitglied: "Wettbewerb heißt heute, auf einem Teppich laufen, der unter einem fortgezogen wird, um gleichzeitig
bewegliche Ziele zu treffen. Das Gefühl der Sicherheit kennt nur noch derjenige, der schneller läuft, als der Boden entgleitet ." (Hartz, Jobrevolution, Frankfurt 2001, S. 121)
LohnarbeiterInnen haben zunächst einmal kein Interesse daran, daß die Profitrate z.B. von 10 Prozent auf 15 Prozent steigt und sie zu diesem Zweck mit Lohnsenkungen oder
mit Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich einverstanden sind.
Andererseits ist aber der Begriff Interesse zwiespältig. Denn als Verkäufer der Ware Arbeitskraft haben LohnarbeiterInnen ein gewisses Interesse daran, daß ihre Ware
gekauft wird, daß es also den Käufern der Ware so gut geht, daß sie ihre Arbeitskraft kaufen. Sie sind deshalb auch zu Zugeständnissen bereit, um ihre Arbeitskraft weiter
verkaufen zu können, wenn sie sich dadurch immer noch besser stellen, als wenn sie sie nicht verkaufen können.
Wenn sie ihr Interesse verfolgen, einigermaßen anständig zu leben, müssen sie Forderungen aufstellen und Kämpfe dafür organisieren. Alle Versuche der LohnarbeiterInnen,
die Verschlechterung ihrer Lage aufzuhalten oder abzumildern, senken jedoch, wenn sie erfolgreich sind, die Profitraten.
Wenn aber die Kapitalverwertung schwieriger wird, provoziert das als Antwort stärkere Produktivitätssteigerungen, Entlassungen, Produktionsverlagerungen, also neue
Versuche, die Renditen wieder anzuheben, in dem aus weniger Arbeitskräften mehr herausgeholt wird.
Wenn LohnarbeiterInnen dagegen das Ziel der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, d.h. der Renditen akzeptieren, unterwerfen sie sich dem Heißhunger des Kapitals nach
Profit und verlieren jede Selbständigkeit. Denn Zugeständnisse bei Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkungen regen das Kapital nur dazu an, je nach Lage weitere
Zugeständnisse zu verlangen. Wenn die deutsche Gewerkschaftsführung diese Politik der Zugeständnisse nun mehr als 15 Jahre erfolglos praktizierte, dann allerdings
nicht allein, weil sie diese - letztlich nationalistische - Argumentation mit der Wettbewerbsfähigkeit übernahm, sondern auch, weil sie sich mit Hinweis auf des
Arbeitslosenheer und dem propagandistischen Vorwurf der "Besitzstandswahrung" in die Defensive drängen ließ.
Wenn die LohnarbeiterInnen die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals stärken, machen sie sich auf Dauer selbst immer mehr überflüssig und tragen noch eher dazu bei, ihr
Lohnniveau unter die Reproduktionskosten zu senken, als wenn sie sich wehren und Zugeständnisse erkämpfen würden.
Auf dem Boden der Kapitalverwertung, der Lohnarbeit, der Produktion für den nationalen Markt oder den Weltmarkt gibt es deshalb auf Dauer keine befriedigende
Perspektive für die arbeitenden Menschen. Die dargestellte Zwickmühle ist auf diesem Boden nicht auflösbar.
Sie stellt auf Dauer das gesamte System der Kapitalverwertung und der Lohnarbeit in Frage. Das muß ebenfalls mehr zum Thema gemacht werden. Nur auf dieser Basis
läßt sich die Perspektive einer nicht-kapitalistischen, sozialen Gesellschaft erarbeiten, die sich deutlich vom pseudo-sozialistischen Gesellschaftsmodell des untergegangenen
Ostblocks unterscheiden muß.
Der Heißhunger des Kapitals nach Rendite ist für viele LohnarbeiterInnen unverständlich, weil sie selbst eben mit einem gewissen Auskommen und sicheren Arbeitsplätzen
schon zufrieden wären. Viele appellieren deshalb an das Kapital, sich doch mit einem Gewinn als solchem zufrieden zu geben. Sie hoffen darüber so etwas wie
"Gerechtigkeit" und eine "soziale Balance" in das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital einzubauen. Diese Hoffnung hatte noch in den 50er und 60er Jahren des
letzten Jahrhunderts einen gewissen Bezug zur Realität. Heute ist diese Hoffnung ganz offensichtlich illusionär. Je schwächer sie wird, desto besser.
Wenn aber diejenigen, die das Kapital mit ihrer Arbeit erst vermehren, in wachsendem Maße unter seiner Regie nicht mehr leben können, werden sich nicht damit abfinden.
Sie werden nicht endlose Jahre ertragen, daß ihre Existenzbedingungen bei wachsendem gesellschaftlichen Reichtum trotz aller Abwehrkämpfe immer schlechter und
unsicherer werden.
Können ihre berechtigten Forderungen heute oder morgen nicht durchgesetzt werden, zeigt es nicht, daß sie unrealistisch waren, sondern daß befriedigende
Lebensverhältnisse trotz steigenden Reichtums und riesiger Produktivität unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich sind.
Klaus Schramm
Anmerkungen
Diese Text ist ein Ausschnitt aus meiner
Rede auf der Freiburger Montags-Demo am 21.08.06
Siehe auch unsere Beiträge:
'Kapitalismus oder Demokratie?' (1.05.05)
'Wir müssen den Gürtel enger schnallen' (30.03.06)
'Gesundheitsreform ist Hartz VI' (17.07.06)
'Minusrente ist schon längst Realität' (23.07.06)
'Sozialabbau und Kinderarmut' (27.07.06)