Tausende von Absperrgittern entlang der Straßen, mit denen die DemonstrantInnen gezwungen werden sollten, auf den Gehwegen zu bleiben, und geschlossene U-Bahn-Stationen konnten nicht verhindern, daß am Freitag erneut über 160.000 Menschen in Tokio gegen den undemokratischen Versuch der Regierung demonstrierten, die Atomkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Die Polizei wollte diesmal keine Angabe zu der von ihr geschätzten Zahl der DemonstrantInnen an die Medien herausgeben. Die japanischen Mainstream-Medien nahmen dies zum Vorwand, keine Zahlen über die Teilnahme an der Demo zu veröffentlichen.
Erneut versammelten sich die DemonstrantInnen vor dem Amtssitz des japanischen Ministerpräsidenten Yoshihiko Noda. Die japanische Regierung hatte am 8. Juni dem Druck der Strom-Konzerne nachgegeben und gegen den Willen einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung dem Neustart der Atomenergie zugestimmt. Laut 'Japan Times' hatte eine landesweite Umfrage ergeben, daß 59,5 Prozent der Befragten den Neustart der Reaktoren des AKW Oi ablehnen und nur 26,7 Prozent das erneute Hochfahren befürworten. Vor einer Woche waren die ersten beiden Atom-Reaktoren von insgesamt 50, die noch funktionsfähig sind, wieder hochgefahren worden.
Weiträumig hatte die Polizei von Tokio die Gehwege mit Absperrgittern eingezäunt, um so das Betreten der Fahrbahnen zu verhindern. An drei von insgesamt vier in der unmittelbaren Umgebung des Amtssitzes gelegenen U-Bahn-Stationen waren die Ausgänge versperrt worden. Nach Angaben des städtischen Polizeibehörde Tokios sollte dies dazu dienen, den Beschäftigten dort die Eingänge für die abendliche Heimfahrt freizuhalten. Tatsächlich wurde damit offenbar versucht, die Menschen vom Demonstrationsort fernzuhalten und zugleich die DemonstrantInnen in kleine Gruppen aufzuteilen. Akemi Orikasa, ein 62-jähriges Mitglied der 'Katsushika Ward Vereinigung', der gekommen war, um die Demonstration zu beobachten, sagte: "Es war seltsam, daß die Polizei jetzt zum erstenmal nicht erlaubte, daß Demonstranten direkt am Gehweg vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten stehen."
In einer Stellungnahme der städtischen Polizeibehörde Tokios heißt es, die Verhinderung von Unfällen habe "höchste Priorität" und allein dies sei der Grund der ungewöhnlichen Maßnahmen. Die Sperrung der Straßen gegen die DemonstrantInnen sei nötig gewesen, um Autounfälle zu verhindern und um zu gewährleisten, daß Krankenwagen im Falle eines medizinischen Notfalls zum Einsatzort kommen können.
Bereits eine Stunde vor Beginn der Demonstration waren mehr als 30 PolizistInnen an der zum Amtssitz des Ministerpräsidenten nächstgelegenen U-Bahn-Station im Einsatz, um dort den Ausgang zu blockieren. Vielfach beschwerten sich die Menschen, die weit vor dem Beginn der Demonstration um 18 Uhr daran gehindert wurden, die U-Bahn-Station zu verlassen.
Eine rund 50-jährige Demo-Teilnehmerin sagte zu der polizeilichen Begründung für die Maßnahmen: "So ein Blödsinn! Die Bürger versammeln sich hier, um ihren Willen zum Ausdruck zu bringen. Welchen Sinn hat dieser Metallzaun? Bei so vielen Menschen sollten sie die Straßen freigeben!" Eine andere ebenfalls rund 50-jährige Demo-Teilnehmerin aus Nagoyo, die eine private Musikschule betreibt, erklärte: "Ich möchte die Kinder so erziehen, daß sie auch Nein sagen können. Bevor ich hierher fuhr, erklärte ich meinen Schülern, warum ich heute keinen Unterricht geben kann." Ein jüngerer Demo-Teilnehmer erklärte: "Ich bin hier, obwohl ich nicht erwarte, daß dies viel ausrichten wird. Noda wird sich höchstens einem Generalstreik beugen, an dem sich sehr viele beteiligen müßten. Ich zweifle, ob das möglich sein wird - aber nur so kann sich etwas ändern. Nur so könnten wir diese Kriminellen aus ihren Machtpositionen verjagen!"
Bei der Demonstration waren immer wieder Sprech-Chöre zu hören wie "Saikado Hantai" ("Nein zum Neustart"), "Atomkraft - Nein danke!" und "Atomkraft ist ein Verbrechen!" Auf vielen selbstgeschriebenen Plakaten war zu lesen: "Weg mit Noda!" (dem japanschen Ministerpräsidenten) und "Nehmt den Neustart zurück!" Menschen, die von ihren Arbeitsplätzen zur U-Bahn strömten, ließen sich von KollegInnen zusammen mit DemonstrantInnen fotografieren, um so ihre Solidarität auszudrücken, bevor die Polizei sie nötigte, in den U-Bahn-Stationen zu verschwinden.
Das Rentner-Ehepaar Yukio und Masumi Tobiyama war zu der Demo nach Tokio gekommen. Er trug einen Strohhut mit einer beschriebenen Banderole: "Goodbye Atomenergie!" Frau Tobiyama sagte gegenüber den Medien: "Mein Mann war bereits etliche Male Freitags dabei, aber für mich ist es das erste Mal." Auf ihrem Mobiltelefon zeigte sie das Bild ihres neunten Enkels: "Ich bin hier, damit er nicht in einer Welt mit Atomenergie leben muß!"
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
160.000 in Tokio: "Saikado Hantai"
Protest gegen Neustart der Atomenergie (7.07.12)
Fukushima: 36 % der Kinder
haben veränderte Schilddrüsen (5.07.12)
200.000 in Tokio gegen Atomenergie
AKW Oi wird hochgefahren (30.06.12)
45.000 auf Demo in Tokio
"Nein zum Neustart der Atomenergie!" (23.06.12)
11.000 protestieren in Tokio
gegen Neustart der Atomenergie (16.06.12)
Atomkraftwerke in Japan
Alle Reaktoren abgeschaltet (5.05.12)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
"Kaltabschaltung" obsolet
Temperatur steigt (13.02.12)
Japan: Nur noch 3
von 54 Atom-Reaktoren am Netz
Internationale Anti-Atom-Konferenz in Yokohama (30.01.12)
AKW Fukushima Daiichi jetzt sicher?
Groteske Informationspolitik in Japan (16.12.11)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
Kernschmelze gravierender als zugegeben (2.12.11)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
Hinweise auf fortdauernde Kernspaltung (2.11.11)
Hohe Radioaktivität in Tokio
Behörden leugnen Zusammenhang mit Fukushima (13.10.11)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
Wie viele Menschen sind bisher betroffen? (7.09.11)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
Regierung verteilt Radioaktivität über Japan (27.08.11)
Weiteres starkes Erdbeben in Japan
Atom-Ruine in Fukushima angeblich nicht betroffen (19.08.11)
Steigende Strahlungswerte
in Atom-Ruine Fukushima (2.08.11)
Verstrahltes Fleisch aus Fukushima
Liefer-Stop für japanische Rinder (19.07.11)
AKW Fukushima Daiichi
Erneute Explosion am 14. Juni? (16.06.11)
Stark erhöhte Radioaktivität
in Fukushima (4.06.11)
Fukushima: Der permanente Super-GAU
TEPCO bestätigt Kernschmelze in 3 Reaktoren (24.05.11)
Explosionsgefahr in Fukushima
Situation weitaus schlimmer als bislang dargestellt (12.05.11)
Roboter in Reaktor-Ruinen von Fukushima
Hohe Radioaktivitäts-Werte (18.04.11)
Anti-Atom-Demo in Japan
(10.04.11)
Aktuelle Hintergrund-Informationen
zur Reaktor-Katastrophe von Fukushima
US-ExpertInnen befürchten negative Entwicklung
in den kommenden Monaten
Fotos von cryptome.org (6.04.11)
Japanischer AKW-Experte:
Reaktor I vermutlich schon am 11. März leck (29.03.11)
Fragen zur Situation in Japan,
zur Atomenergie und zu Deutschland (25.03.11)
Gesellschaft für Strahlenschutz:
Super-GAU ist längst Realität (23.03.11)
Die Situation in den havarierten japanischen AKW
Stand: Sonntag 16 Uhr (13.03.11)
Notkühlfall in japanischem AKW
Situation in Reaktor Fukushima Daiichi I spitzt sich zu (11.03.11)
Nach jahrelangem Stillstand
Japanischer Schneller Brüter Monju im Probebetrieb (7.05.10)
Feuer in japanischem AKW
Ein Arbeiter verletzt (5.03.09)
Brand im weltgrößten AKW
Seit Juli wegen Erdbeben-Schäden
auf unabsehbare Zeit abgeschaltet (20.09.07)
Japanisches AKW durch Erdbeben schwerer beschädigt
als bisher bekannt
Über 50 Prozent mehr Radioaktivität ausgetreten (18.07.07)
Erdbeben verursachte Unfall in japanischem AKW
Radioaktives Wasser trat aus (16.07.07)
Schweres Erdbeben erinnert an
AKW-Stilllegung vor einem Jahr (26.03.07)
Japan: AKW Shika abgeschaltet
Gericht erkennt auf mangelhafte Erdebebensicherheit (25.03.06)
11 AKWs in Japan abgeschaltet
Zweiter japanischer Strom-Konzern muß Konsequenzen ziehen
(14.08.04)
Atom-Ausstieg ist möglich
in Japan 17 AKWs abgeschaltet (22.04.03)