Wieviel das Grundgesetz in den 1950er-Jahren wert war
Zwanzig Jahre lang (zumindest) wurde in der noch jungen BRD das Grundgesetz staatlicherseits gebrochen: Es wurden Briefe, Päckchen und Pakete geöffnet, beschlagnahmt und vernichtet, Telegramme abgeschrieben und Telefone abgehört - in einem Ausmaß, das erst jetzt durch Forschungen bekannt wird. Dabei steht im Grundgesetz in aller Klarheit geschrieben: "Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden." Und ein solches Gesetz, das "Beschränkungen" - also die massenhaft durchgeführte Bespitzelung - ermöglicht hätte, wurde erst 1968 geschaffen.
Eine Relativierung dieses - zumindest für jene, die das Grundgesetz ernstnahmen und gegen Angriffe von rechts verteidigten - erschütternden Befundes bietet auch keineswegs die Tatsache, daß die BRD 1949 noch unter zweierlei Recht stand. Neben dem Grundgesetz galt das Besatzungsstatut. Doch letzteres gab ausschließlich den Siegermächten eine Handhabe, das Post- und Fernmeldegeheimnis zu mißachten. Diese machten vorbildhaft davon einen exzessiven Gebrauch. In der französischen Zone etwa wurde, wie der Chef der Unionsfraktion, Heinrich von Brentano, 1951 an Kanzler Konrad Adenauer schrieb, "die gesamte Post grundsätzlich den französischen Behörden zur Zensur zugeleitet" - auch alle Sendungen aus Bonn, so daß anzunehmen war, "daß auch die Korrespondenz der Bundesregierung und der Bundestagsabgeordneten der Kontrolle durch die französische Securité unterliegt".
Außerdem wurden Telegramme und Telefonanschlüsse kontrolliert und überwacht. "Ich weiß", so Brentano, "daß beispielsweise in Mainz die Landesregierung, der Landtag, die Gerichtsbehörden, die politischen Parteien, die konfessionellen Verbände, der Bauernverband, das Regierungspräsidium, die Verlage, die Bischöfliche Kanzlei, der Bischof selbst, eine Anzahl von Anwälten, Landtags- und Bundestagsabgeordneten, bestimmte Firmen und Zeitungen dieser ständigen Kontrolle unterliegen."
In Freiburg sollte beispielsweise im Sommer 1951 das Telefonnetz erweitert werden. Die französische Besatzungsmacht forderte "nach Inbetriebnahme der Vermittlungsstelle Berthold" auch den "technischen Überwachungsdienst" im Postamt Eisenbahnstraße zu erweitern. Detailliert hieß es: "Ein 200-doppeladriges Kabel mit Bleimantel wird zwischen dem Hauptverteiler des neuen Wählamts und dem Abhörraum des technischen Überwachungsdienstes gelegt."
Die Kontrolle - allein zwischen 1960 und 1967 wurden 42,1 Millionen Postsendungen an die US-amerikanischen Behörden ausgehändigt - erforderte einen großen Apparat. In der britischen Überwachungsstelle in Düsseldorf waren 90 Leute beschäftigt. Auch die deutschen Behörden waren angewiesen, mitzuwirken, ihr Wissen aber geheim zu halten. Nachweislich wurden in 19 Post- und Fernmeldeämtern von Bremen bis München alliierte Zensur- und Überwachungsstellen eingerichtet, deren Mietverträge erst 1968 endeten, als eine Grundgesetzänderung Post- und Telefonüberwachungen nach deutschem Recht legalisierte. Bis dahin hatten vor allem die US-Amerikaner Postkontrollen auf deutschem Boden weiter ausgeübt, wie Abrechnungen der Bundespost mit dem Hauptquartier der US Forces Frankfurt belegen.
Die deutschen Behörden beschränkten sich zwischen 1955 und 1960 keineswegs nur auf Zulieferdienste, sondern wurden selbst aktiv, als sich der Propagandakrieg zwischen den beiden deutschen Staaten verschärfte. 1951 wurde in der Bundesrepublik das politische Strafrecht, das die Siegermächte 1945 abgeschafft hatten, wieder eingeführt und teilweise verschärft. Danach mußte jede politische Handlung, die als "staatsgefährdend" galt, verfolgt werden, auch die Einfuhr und Verbreitung "verfassungsverräterischer" Schriften und Materialien.
Der Verfassungsbruch, der Bruch des Post- und Fernmeldegeheimnises, wurde als defensiv verbrähmt und als Abwehrkampf gegen "Verfassungsverrat" und "Staatsgefährdung" per Post legitimiert, wenn auch nicht legalisiert. Eine Legalisierung hätte in den 1950er und 1960er Jahren eine Offenlegung der Zensur-Praxis zur Voraussetzung gehabt. Doch dies verhinderte vermutlich ein damals noch bestehendes Vermögen der Verantwortlichen, die Kluft zwischen Anspruch (Grundgesetz) und Realität (Zensur) als peinlich wahrzunehmen.
So wurde beschlagnahmte Post auch eher vernichtet, als durch ihre Weiterleitung einen Hinweis auf die Zensur-Praxis zu ermöglichen. In einer dramatischen Sitzung der Innen- und Justizressorts des Bundes und der Länder suchte man 1952 eine praktikable Regelung bei der praktischen Durchführung der Zensur. Für Bundesjustizminster Dehler (FDP) war die Sache klar. Staatsgefährdende Briefe und Pakete mußten aus dem Verkehr gezogen und dem Staatsanwalt übergeben werden. Die Post habe sogar die Pflicht dazu, meinte er: "Sie steht über dem Postgeheimnis". Was aber sollte mit der Masse beschlagnahmter Postsendungen aus der DDR geschehen? Zurück an den Absender, wie es das Postgesetz vorsah? Ritter von Lex, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, hatte eine bessere Lösung: "In den Wolf hinein!"
Da landete natürlich nicht nur Propaganda, sondern auch, wie der 'spiegel' noch 1964 berichtete, mancher "liebe Brief" aus Ostberlin, manches "Danke schön" wie das von "Trudchen nebst Familie" aus Woltersdorf oder Päckchen aus Leipzig. Im Gefängnis von Hannover stand ein Reißwolf, in dem Gefangene beschlagnahmte Postsendungen vernichteten. Auf welcher Rechtsgrundlage? Woran erkannte man den staatsgefährdenden Charakter einer Schrift? Und wie entdeckte man sie in der Masse der Post? War nicht durch das Postgesetz der Blick in offene und erst recht verschlossene Briefe untersagt?
Deutsches Recht half hier nicht weiter. Alliiertes Recht, das über dem Grundgesetz stand, bot scheinbar die Lösung. 1950 hatte die britische Zensur festgestellt, daß mehr und mehr Propaganda per Post in die Westzonen gelangte. Der britische Hohe Kommissar ließ bei Adenauer anfragen, ob er mit einer Verstärkung der Briefzensur einverstanden sei. Laut Grundgesetz sei es Bonn ja "leider verwehrt, eine Zensur auszuüben. Unter diesen Umständen könne daher eine wirksame Abwehr der sowjetischen Propaganda nur durch die Besatzungsmacht sichergestellt werden". Adenauer stimmte zu: "Der Herr Bundeskanzler ist mit der hier vorgeschlagenen Verstärkung der Briefzensur einverstanden." Das hatte Wirkung. Alliierte und Deutsche zensierten nun gemeinsam, zumindest die Post aus der DDR, Osteuropa und der Sowjetunion. Die Behörden operierte per alliierter Verordnung, aber außerhalb des Grundgesetzes.
Wie gelang es, einen Kernbestandteil der Verfassung schon nach so kurzer Zeit praktisch wieder außer Kraft zu setzen? Auslöser war die in den turbulenten Anfangsjahren der Bundesrepublik von der neuen bundesdeutschen Elite und von des Westmächten als gefährdend empfundene und instrumentalisierte Bedrohung durch den "Kommunismus". Adenauer selbst war damals keineswegs unumstritten. Kritik gab es von allen Seiten, so an seiner Politik der Westintegration und Wiederbewaffnung. Da leistete "Hetzpropaganda" von KPD und SED, gegen die man strikt vorgehen konnte, einen willkommenen Vorwand der Selbstrechtfertigung.
Eine Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses auf gesetzgeberischem Weg, per Zweidrittelmehrheit im Bundestag, war gegen die SPD nicht zu erreichen. Zumindest deren Führungskräfte wie etwa Willy Brandt waren in das illegale Treiben eingeweiht, mochten dafür aber nicht öffentlich einstehen. Ein Gesetz über "Beschränkungen" des Post- und Fernmeldegeheimnisses, wie es erst 1968 zustande kam, hätte zwangsläufig hohen Auflagen gegen Zensur-Maßnahmen enthalten und war daher von der Administration nicht gewollt. Es hätte den Kampf gegen den "Kommunismus" nur erschwert.
So zimmerte die damalige bundesdeutsche Elite gleichsam um das Grundgesetz herum einen rechtlichen Rahmen, um dem eigenen Handeln eine Scheinlegalität zu gewähren. Bestandteile waren das Besatzungsrecht, das Verfassungsrecht samt dem Schutz des Staates als "höherwertigem Gut", das Strafrecht, das den Staatsanwalt zwang, "staatsgefährdende" Schriften zu verfolgen, und das Beamtenrecht, das Beamten der Post, des Zolls, der Bahn und der Polizei vor die Wahl stellte, entweder das Postgeheimnis oder ihre Treuepflicht zu verletzen, mithin so oder so straffällig zu werden.
Dies alles verlief keineswegs geräuschlos. WissenschaftlerInnen erhielten abonnierte Zeitschriften aus Osteuropa nicht mehr und protestierten. Abgeordnete vermissten ihre Briefe, Zeitungen und sonstigen Informationen aus der DDR. "Tatsächlich", so Adolf Arndt (SPD) 1956 an den bayerischen Justizminister, "üben die Postbehörden im Zusammenwirken mit den Staatsanwaltschaften und den Amtsgerichten eine verfassungswidrige Zensur aus." Auch im Bundestag wurde Kritik laut. Von 1955 bis 1962 stellten SPD und FDP acht Anfragen zur Zensur, ohne - auf dieser Ebene - tatsächlich informiert zu werden. In der Justiz regte sich Widerstand. Das Landgericht Frankfurt wies einen Antrag des Oberstaatsanwalts zurück, 101 Briefe mit Artikeln aus dem SED-Blatt 'Neues Deutschland' zu beschlagnahmen, weil sie die Bundesregierung kritisierten. Jeder habe das Recht, so das Gericht, "sich direkt auch über das in der SBZ erscheinende Schrifttum zu informieren." Ein Amtsrichter in Wolfenbüttel will wissen, "wie es kommt, daß die Briefe bereits geöffnet sind. Ich bin nicht gewillt, eine ungesetzliche Verletzung des Postgeheimnisses zu dulden".
Doch mit Adenauers grandiosem Wahlsieg vom 15. September 1957, der ihm die absolute Mehrheit brachte, fühlte sich die Exekutive der BRD auch in ihrem "Kampf gegen den Kommunismus" bestätigt. Der Kampf wurde eher verstärkt als verringert. Dies galt auch für die Zensur, Beschlagnahme und Vernichtung von "staatsgefährdenden Postsendungen". Die vereinzelte Kritik schlug in öffentliche Erregung um, als sich die Bundesregierung kurz nach der "Spiegel-Affäre" 1963 mit der sogenannten Abhöraffäre konfrontiert sah. Die Zeit berichtete, daß bei einem der drei deutschen Geheimdienste, dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), nicht nur "ehemalige SS-Leute als Hüter unserer demokratischen Staatsordnung" amtierten, sondern diese Behörde auch "seit Jahren das in Artikel 10 Grundgesetz verbürgte Brief- und Fernmeldegeheimnis" systematisch durchlöchere.
Wie deutsche Stellen, neben BfV auch Post, Zoll und andere, vom Recht der Alliierten für ihre Zwecke Gebrauch machten, wurde nie geklärt, obwohl ein Untersuchungsausschuß eingesetzt wurde und der 1963 zum Nachfolger Adenauers gewählte Ludwig Erhard ein externes Gutachten in Auftrag gab. Die Abhöraffäre endete mit einem Freispruch erster Klasse: Max Silberstein, Altpräsident des Oberlandesgerichts Karlsruhe, kam zu dem erstaunlichen Ergebnis, daß im Gegensatz zu den Presseberichten "keinerlei Hinweise auf Mißbrauchsfälle im Bereich der Post- und Fernsprechkontrolle festgestellt werden" konnten.
Grundlage hierfür war der Deutschlandvertrag von 1955 und - bislang unbekannt - ein geheimes Schreiben anläßlich der Unterzeichnung der Verträge an Adenauer. Darin erklärten die drei Alliierten Hohen Kommissare, daß die "bisher ausgeübte" Post- und Fernmeldezensur nicht aufgegeben würde, sondern "unter die Vorbehaltsrechte der Drei Mächte nach Artikel 5 des Deutschlandvertrages fällt".
Das "fremde Recht", das nach Erlangung der Souveränität der Bundesrepublik 1955 weiter gültig blieb, belastete nicht, sondern entlastete die deutschen Behörden. Nicht sie, sondern die Alliierten waren dafür verantwortlich, so etwa die Logik Ludwig Erhards in einem Schreiben an seine Kabinettskollegen. Danach führten die Deutschen nur aus, was ihnen aufgezwungen worden war und was sie bei Aufhebung des Besatzungsstatuts vorgefunden hatten. "Deshalb bestehen auch keine politischen Bedenken dagegen, daß dieses Besatzungsrecht zur Grundlage von Eingriffen in Grundrechte, insbesondere Art. 10 GG, gemacht wird."
An der verfassungswidrigen Zensur- und Abhörpraxis änderte sich auch nach der "Abhöraffäre" von 1963 nichts. Dennoch zeigte sie Wirkung. Nach der "Spiegel-Affäre" wirkte auch diese Affäre wie ein Katalysator eines Liberalisierungsprozesses, der mit dem Ende der Ära Adenauer neuen Schwung bekam. Die Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Individuum, von Staatsschutz und Grundrechten, wurden neu gestellt. War der Staatsschutz wirklich, wie die Beamten immer noch meinten, ein höherwertiges Gut?
Fünf Jahre später, 1968, bekam die BRD Notstandsgesetze, aber auch endlich ein Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Die SPD hatte auf diesem Junktim bestanden, um die als dringend notwendigen erachteten, aber von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnten Notstandsgesetze abfedern zu können. So blieben vor allem die Beseitigung der alliierten Vorbehaltsrechte und der Souveränitätsgewinn in der medial gelenkten Erinnerung der Deutschen haften. Die fast zwanzig Jahre der Mißachtung und Verletzung des Brief- und Telefongeheimnisses aber sind seither so gut wie vergessen.
Nicht nur in der DDR, auch in der BRD wurde zensiert, abgehört und Post vernichtet. Daran ist in diesem Jubiläumsjahr zu erinnern. Beide Seiten waren daran interessiert, die innerdeutsche Grenze immer undurchdringlicher zu machen. Entgegen der Sonntagsreden glaubte auch in der BRD-Elite kaum mehr jemand als eine "Wiedervereinigung".
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
DDR-Nostalgie?
57 Prozent der Ostdeutschen werten DDR positiv (26.06.09)
60 Jahre Unrechts-Staat BRD (23.05.09)
"Blühende Landschaften" im Osten
Armuts-Atlas des Paritätischen Gesamtverbandes (19.05.09)
10. Jahrestag des Kosovo-Kriegs
Propaganda von der "humanitären Katastrophe"
bis heute aufrechterhalten (24.03.09)
Die Entwicklung der Grünen zur Kriegspartei
und die Vorbereitung des Kosovo-Kriegs (24.03.09)