20.09.2011

Radioaktivität in Lebensmitteln
Foodwatch und IPPNW
fordern strengere Grenzwerte

Wie radioakriv darf Fisch sein? Die VerbraucherInnenschutz-Organisation 'foodwatch' und die ÄrztInnen-Organisation IPPNW fordern eine drastische Absenkung der derzeit geltenden Radioaktivitäts-Grenzwerte bei Lebensmitteln. Diese böten keinen ausreichenden Gesundheitsschutz. Sie stellten heute in Berlin den Report "Kalkulierter Strahlentod - Die Grenzwerte für radioaktiv verstrahlte Lebensmittel in EU und Japan" vor.

Der Super-GAU von Fukushima ist noch längst nicht zu Ende und über kurz oder lang ist auch ein Anstieg der Radioaktivität in Europa ebenso wie der Import von radioaktiv kontaminiertem Fisch aus dem Pazifik zu erwarten. Um voreiligen Schlußfolgerungen vorzubeugen, weisen 'foodwatch' und IPPNW darauf hin, daß derzeit in Europa noch keine Hinweise auf hochbelastete Produkte aus Japan vorliegen. Thomas Dersee, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz, rechnet jedoch damit, "daß wir mit der Gesundheitsgefährdung, die von dem havarierten Atomkraftwerk in Fukushima ausgeht, noch 30 Jahre zu tun haben werden."

Jedoch informieren die EU, die deutsche Bundesregierung und die japanische Regierung ihre BürgerInnen nach Auffassung von 'foodwatch' und IPPNW nicht ausreichend darüber, daß es keine "sicheren" Grenzwerte für die radioaktive Belastung von Nahrungsmitteln gibt. Jede noch so geringe radioaktive Strahlung bedeute ein gesundheitliches Risiko, weil sie ausreicht, schwere Erkrankungen wie Krebs auszulösen.

Aus dem Report, der auf einem Gutachten von Thomas Dersee und Sebastian Pflugbeil (Gesellschaft für Strahlenschutz) beruht, geht hervor, daß jede Festlegung eines Radioaktivitäts-Grenzwertes eine Entscheidung über die tolerierte Zahl von Todesfällen ist. Nach den Berechnungsgrundlagen der Internationalen Strahlenschutzkommission akzeptiert die EU mit ihren aktuellen Grenzwerten allein für Deutschland eine Zahl von mindestens rund 150.000 zusätzlichen Todesfällen pro Jahr durch Krebs in Folge der Strahlenbelastung von Lebensmitteln - dies gilt unter der theoretischen Annahme, daß die Bevölkerung sich ausschließlich von Produkten ernährt, die in Höhe der Grenzwerte belastet sind. Würden diese Grenzwerte lediglich zu fünf Prozent ausgeschöpft, bedeutete dies immer noch die Akzeptanz von jährlich mindestens 7.700 zusätzlichen Todesfällen in Deutschland.

Die aktuellen EU-Grenzwerte liegen zwischen 200 und 600 Becquerel Cäsium pro Kilogramm Lebensmittel. Sie stehen im krassen Widerspruch zum Maßstab geltenden deutschen Rechts: Die deutsche Strahlenschutzverordnung läßt für den Normalbetrieb von Atomkraftwerken eine Gesamtbelastung für Einzelpersonen mit einer effektiven Jahresdosis von 1 Millisievert zu. Die EU-weiten Strahlen-Grenzwerte für Lebensmittel tolerieren dagegen eine Jahresdosis von mindestens 33 Millisievert bei Erwachsenen und 68 Millisievert bei Kindern und Jugendlichen. Selbst in den von Tschernobyl betroffenen Staaten Weißrussland und Ukraine gelten strengere Höchstgrenzen als in der Europäischen Union - folglich können Lebensmittel, die dort aufgrund der Strahlenbelastung nicht mehr gehandelt werden dürfen, legal in der EU vermarktet werden.

Da ausreichend Lebensmittel mit erheblich geringerer radioaktiver Belastung verfügbar sind, besteht keine Notwendigkeit, den Menschen so hochbelastete Produkte zuzumuten. 'Foodwatch' und IPPNW fordern daher eine drastische Absenkung der Grenzwerte für Säuglingsnahrung und Milchprodukte: von bisher 370 (für Japan-Importe derzeit 200) auf 8 Becquerel Cäsium pro Kilogramm - für alle anderen Nahrungsmittel: von 600 (für Japan-Importe derzeit 500) auf 16 Becquerel Cäsium pro Kilogramm.

Diese Grenzwerte würden der Maßgabe der deutschen Strahlenschutzverordnung gerecht, nach der aus jedem Expositionspfad (d.h. für die Ableitung radioaktiver Stoffe aus Kraftwerken mit Luft oder Wasser) eine maximale jährliche Strahlendosis von 0,3 Millisievert resultieren darf (eine Nuklidzusammensetzung wie nach dem Fallout von Fukushima vorausgesetzt). Die Forderung erfolgt in dem Wissen, daß jede - also auch eine so niedrige - Grenzwertfestsetzung mit Strahlenopfern verbunden ist. Dies müßte nach Ansicht der KritikerInnen Anlaß genug sein, den Weiterbetrieb und Neubau von Atomanlagen grundsätzlich in Frage zu stellen.

Thilo Bode, Geschäftsführer von 'foodwatch', erklärt: "Die in der EU und in Japan geltenden Grenzwerte sind unzumutbar hoch, sie folgen wirtschaftlichen Interessen und setzen die Bevölkerungen unnötig massiven gesundheitlichen Risiken aus. Aus den europäischen Grundrechten, in denen das Vorsorgeprinzip und das Recht auf körperliche Unversehrtheit verankert sind, erwächst eine Handlungsverpflichtung für die europäische Politik: Sie muß die Grenzwerte drastisch senken, um ein angemessenes Schutzniveau für die Bürger zu gewährleisten."

Dr. med. Winfrid Eisenberg, Kinderarzt und IPPNW-Mitglied erläutert: "Radioaktivität beeinträchtigt lebende Zellen. Selbst kleinste Strahlendosen können die Erbinformation verändern, das Immunsystem schädigen, Krebs auslösen - das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche. Je jünger ein Kind, desto schneller wächst es, desto mehr Zellteilungen finden statt, desto größer ist die Gefahr von Strahlenschäden. Ein Embryo ist um ein Vielfaches strahlensensibler als jeder andere Mensch. Die EU-Strahlenschutz-Grenzwerte sind aus ärztlicher Sicht nicht verantwortbar."

'Foodwatch' und die Deutsche Sektion der IPPNW legen auch der japanischen Regierung nahe, die Lebensmittel-Grenzwerte für die langlebigen Cäsium-Isotope erheblich zu senken. Für die Belastung mit Jod-131 fordern beide Organisationen Null-Toleranz: "Wegen der relativ kurzen Halbwertszeit müssen und dürfen den Menschen keine mit Jod-131 belasteten Produkte zugemutet werden. Viele Nahrungsmittel können bis zum Zerfall der Isotope - gegebenenfalls tiefgefroren - gelagert werden und sind anschließend wieder für den Verzehr geeignet."

Eine weitere Forderung lautet, künftig dürfe nur noch ein Grenzwertregime gelten: für den Normal- und für den Katastrophenfall gleichermaßen. Heute kann die Europäische Kommission nach einem Atom-Unglück mit Hilfe der so genannten Tschernobyl-"Schubladenverordnung" - wie nach Fukushima zunächst geschehen - ohne jede parlamentarische Kontrolle höhere, also weniger strenge Grenzwerte in Kraft setzen.

 

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