31.10.2005

PISA offenbart vertiefte Kluft
zwischen Arm und Reich

Der aktuell vorgelegte PISA-Bericht offenbart, daß Kindern aus den unteren Schichten deutlich schlechtere Bildungs-Chancen zugestanden werden, als solchen aus den oberen Schichten. Diese Kluft wurde weiter vertieft1 und Deutschland ist in dieser Hinsicht das reaktionärste und kinderfeindlichste Land in der EU.

Beispielsweise haben Fünfzehnjährige aus wohlhabendem Elternhaus bei identischem Wissensstand und Lernvermögen im Bundesdurchschnitt eine rund viermal größere Chance, das Gymnasium zu besuchen als solche aus ärmeren Familien. Dies geht aus Vorabinformationen der Deutschen Presseagentur (dpa) aus der PISA-Länderstudie hervor. Offiziell soll die aktuelle PISA-Studie erst im Laufe der Woche vorgelegt und kommentiert werden, die Zahlen sprechen jedoch eine eindeutige Sprache.

Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind erheblich. In Bayern sind die Bildungs-Chancen von Kindern aus begüterten Familien gar um den Faktor 6,65 höher als die von Kindern aus ärmeren Familien. Brandenburg hat mit 2,38 den geringsten Faktor und damit das am wenigsten schlechte Ergebnis, wobei allerdings das Niveau der Schulen in Brandenburg besonders niedrig ist. Bei Berücksichtigung der Schul-Qualität (nach den PISA-Maßstäben) wäre das Bundesland Sachsen der Sieger des PISA-Schultests. Der Chancenvorteil für Kinder aus begüterten Familien fällt hier mit einem Faktor 2,79 relativ gering aus, während Sachsen beim Leistungsvergleich Baden-Württemberg in mehreren Gebieten auf den dritten Rang verdrängt hat.

Die weniger blamablen Teile der PISA-Untersuchung wurden bereits vor der Bundestagswahl - im Juli - veröffentlicht. Dabei wurden bundesweit leichte Leistungszuwächse auf den Gebieten Mathematik, Naturwissenschaften, Lesen und Problemlösen - allerdings lediglich an Gymnasien - ermittelt. Die Veröffentlichung der Resultate sowie Rahmen- und Hintergrunddaten zur sozialen Lage der SchülerInnen hatte die deutsche PISA-Kommission auf den 3. November verschoben.

Schon der PISA-Bericht aus dem Jahr 2000 belegte, daß in keinem anderen Industriestaat der Schulerfolg so sehr von der sozialen Herkunft abhängig ist wie in Deutschland. Seitdem ist der Vorsprung von SchülerInnen aus begüterten Familien noch einmal deutlich angewachsen. In Mathematik und in den Naturwissenschaften beträgt der Vorteil gegenüber Kindern aus ärmeren Familien mehr als 100 PISA-Punkte, was einem Lernfortschritt von über zwei Schuljahren entspricht.

Die Unterschiede in den Bildungs-Chancen werden in der Studie zum Teil damit zu erklären versucht, daß die Eltern in wohlhabenden Familien zumeist AkademikerInnen und Führungskräfte seien, die bereits selbst über eine bessere Bildung verfügen. Ergänzend ist auf die Möglichkeit, Nachhilfe-Unterricht finanzieren zu können, hinzuweisen. Über ein unterstelltes höheres Interesse des häuslichen Umfelds an Bildung hinaus, spielen auch weitere materielle Bedingungen eine Rolle. So ist in der PISA-Studie erwähnt, daß Kinder aus der Oberschicht häufiger über ein eigenes Zimmer und einen Schreibtisch für die Hausaufgaben sowie einen PC mit Internet-Zugang verfügen.

Die Unterschiede zwischen Deutschland und anderen Industrienationen lassen sich damit jedoch nicht erklären. Auffallend ist, daß in Deutschland für Schule und Bildung relativ wenig Geld zur Verfügung gestellt wird. Ideologisch aufgeheizte Debatten um dreigliedriges Schulsystem versus Gesamtschule haben die grundlegende Misere überdeckt. In Nordrhein-Westfalen, wo die Gesamtschule von der SPD lange Zeit gefördert wurde, ist die Chancen-Ungleichheit deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Auffallend ist die im Vergleich geringe Dichte an Kindergärten in Deutschland und die durch Mittelstreichungen und entsprechende Änderungen der Auflagen erzwungene Größe der Gruppen in Kindergärten. So ist die vorrangige Aufgabe dieser "Vorschule" die Erzeugung von "Disziplin" und "Anpassungsfähigkeit".

Ob mit der designierten Bundes-Bildungsministerin Anette Schavan oder wem auch immer als NachfolgerIn von Edelgard Bulmahn wird sich die bisherige Tendenz weiter verschärfen. Schavan hat sich als Verfechterin von Studiengebühren bereits deutlich als treibende Kraft für vermehrte Chancen-Ungleichheit zu erkennen gegeben. Etwaigen Hoffnungen der Öffentlichkeit, der sie in den Mainstream-Medien als erfolgreiche Ministerin aus Baden-Württemberg verkauft wird, beugte sie bereits vor: Angesichts der "Spardebatte"2 dürfe nicht zu viel erwartet werden.

 

Harry Weber

 

Anmerkungen

1 Siehe hierzu auch:

    'Die "Pisa"-Blamage' (15.12.01)

    'PISA erfreulich?' (17.12.01)

    'Kinderrechte mit Füßen getreten' (16.01.04)

    'Chemie im Blut von Kindern' (30.10.04)

    'Deutschland Spitze in Kinderfeindlichkeit' (2.03.05)

2 Siehe hierzu auch:

    'Hessens Marodeur Roland Koch droht
    mit "Heulen und Zähneklappern"'(25.10.05)

 

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