Optimismus ist nicht angesagt
Am Samstag vor Pfingsten demonstrierten nach verschiedenen Angaben zwischen 15 und 20.000 Menschen in Berlin gegen den fortgesetzten Sozialabbau. Die Gewerkschaftsführung hatte sich taub gestellt.
Die OrganisatorInnen hatten erreichen können, daß ein Sonderzug zur Demo nach Berlin fuhr. Auch zahlreiche Busse trafen in Berlin aus allen Teilen Deutschlands ein. Dennoch war dies für den DGB kein Grund, sich an der Mobilisierung zu beteiligen. Auch bei IG Metall und ver.di konnte sich die Basis diesmal nicht gegen die korrupten FunktionärInnen durchsetzen. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske ("Grüne") hatte einen Eiertanz vollführt und eine anfängliche Zusage, bei der Abschlußkundgebung zu reden, wieder zurückgezogen.
Unter dem Motto "Schluß mit den Reformen gegen uns" waren trotz der Absage von Bsirske und trotz strömenden Regens eine beachtliche Zahl von Menschen nach Berlin gekommen, um gegen Hartz IV, gegen Agenda 2010 und die weitere Umverteilung von unten nach oben zu protestieren. Gegen den Teil des Demonstrationzugs, wo die FAU (Freie Arbeiter Union, eine anarchistisch-syndikalistische Gruppierung) mit ihren Transparenten deutlich erkennbar war, gab es massive Übergriffe der Polizei. Dabei wurde versucht, einzelne Demo-TeilnehmerInnen herauszuziehen und festzunehmen. Die Polizei knüppelte mit dem Schlagstock in die Menge und setzte Pfefferspray ein. Vorwand für die Aggression war offenbar das Fronttransparent der FAU, auf dem zu lesen war: "Endlich in die Offensive / Revolutionäre Gewerkschaften überall". Weshalb es be"schlag"nahmt werden sollte, war nicht zu erfahren. Nach Darstellung der FAU sei damit "zum wiederholten Male" die grundgesetzliche Verankerung der Koalitionsfreiheit der ArbeiterInnen von der Berliner Polizei angegriffen worden. Offensichtlich überschätzt die FAU jedoch ihre Bedeutung angesichts der eigenen wenigen AnhängerInnen.
Vermutet wurde auch, daß seltsame und auf Konflikt angelegte Auflagen wegen der Größe von Transparenten Anlaß für die "Ausschreitungen" der Berliner Polizei waren. Wenn eine Strategie hinter der Aggression der Berliner Polizei gesehen werden könnte, dann eher die, durch solche Aktionen die Aufmerksamkeit auf die FAU als ernstzunehmende Alternative zum DGB zu lenken. Ziel der Kapitals ist immer noch die Schwächung der Gewerkschaft, sei es durch die Aushebelung des Flächentarifvertrags oder durch Spaltung. Auch wenn die deutsche Gewerkschaftsführung korrupt ist, darf deshalb nicht die historische Errungenschaft der Einheitsgewerkschaft leichtfertig aufgegeben werden. Eine Vielzahl von Richtungsgewerkschaften wie in Frankreich oder Großbritannien zeigt allzu deutlich, daß eine solche Zersplitterung keineswegs eine Garantie für weniger Korruption darstellt. In Frankreich ist beispielsweise
die Führung der kommunistischen CGT so korrupt, daß sie Atomenergie befürwortet.
Seit die Montagsdemo-Bewegung im September 2004 gespalten werden konnte, hat der Widerstand gegen den Sozialabbau in Deutschland deutlich nachgelassen. Auch zu zentralen Demos können keine Hundertausend mehr mobilisiert werden. Die Entwicklung der letzten drei Jahre ist nicht sehr ermutigend:
1. November 2003
Berlin
100.000 bei unabhängig organisierer Demo gegen Sozialabbau
Artikel: 'Mehrheit gegen "rot-grüne" Steuerpolitik'
13. Dezember 2003
Zehntausende auf Demos in Berlin, Leipzig, Frankfurt
Artikel: 'Gegen Bildungsabbau und Sozialklau'
Zehntausende demonstrierten am Wochenende
3. April 2004
gewerkschaftlich organisierte Demos
Berlin: 250.000, Stuttgart: 150.000, Köln 120.000
Artikel: 'Gegen Reaktionäre'
Sommer 2004
jeden Montag über 90.000 bei den Montags-Demos
Artikel: 'Immer mehr bei Montags-Demos'
2. Oktober 2004
gewerkschaftlich organisierte Demo in Berlin: 50.000
(siehe auch www.zweiter-oktober.de)
3. Oktober 2004
Berlin: 5 bis 12.000 auf Demo (mit Beteiligung der MLPD)
5. November 2005
15.000 in Berlin
Artikel: 'Demo gegen Sozialabbau'
Und für diesen Herbst ist schon absehbar, daß sich das dümmliche Spiel vom Oktober 2004 in Berlin wiederholt. Es sollen vermutlich zwei konkurrierende Demos gegen Sozialabbau veranstaltet werden...
Frank Bayer
Anmerkungen
Siehe auch unsere Beiträge:
'Kapitalismus oder Demokratie?' (1.05.05)
'Wir müssen den Gürtel enger schnallen' (30.03.06)