Bei einer Revision im Schweizer AKW Leibstadt wurde ein Mitarbeiter bei einem Tauchgang im vergangenen August verstrahlt. Dabei erlitt er mit 28 Millisiervert auf einen Schlag eine Strahlendosis über dem sogenannten Jahresdosisgrenzwert. Der nun veröffentlichte Untersuchungs- bericht offenbart erhebliche Sicherheits- mängel.
Am 31. August griff ein Taucher im Brennelement-Transferbecken des Schweizer AKW Leibstadt nach einem 25 Zentimeter langen Rohrstück auf dem Beckenboden. Er legte es in einen Transportkorb, mit dem es an die Oberfläche gezogen wurde. Dort schlug ein Geigerzähler an. Das stark verstrahlte Rohrstück hatte demnach auch den Taucher massiver Strahlung ausgesetzt. Wie sich mittlerweile herausstellte, spricht der offizielle Untersuchungsbericht von 28 Millisievert. Der sogenannte Jahresdosisgrenzwert, der keineswegs eine ungefährliche Strahlungsmenge festlegt, beträgt 20 Millisievert.
Die Untersuchung des schwerwiegenden Vorfalls, von dem die Öffentlichkeit bezeichnender Weise erst jetzt erfuhr, wurde bereits im Dezember abgeschlossen. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) ergänzte jetzt lediglich eine harmlose Medienmitteilung, die unmittelbar nach dem Vorfall Anfang September 2010 herausgegeben worden war. Aus einem Ensi-Bericht und einem Expertengutachten geht jedoch laut einer Veröffentlichung im Schweizer Nachrichtenmagazin 'Beobachter' hervor, daß mit dem Unfall beim Tauchgang eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten und Sicherheitsmängeln verknüpft sind:
- Das radioaktive Rohrstück, ein Stück des Mantelrohrs der Reaktorkerninstrumentierung, lag bereits rund vier Jahre am Beckenboden. Die entsprechenden Rohre werden alle paar Jahre ausgewechselt, zerschnitten und in einer Art Köcher durch einen Lift ins rund 20 Meter weiter unten liegende Transferbecken
geschleust. 2006 hatten sich die Rohrstücke, die laut Leibstadt-Direktor Andreas Pfeiffer "nach Augenmaß" zugesägt worden waren, beim Ausladen aus dem Lift verklemmt, weil sie zu lang waren. Als man den Transportköcher wieder hochzog, brach ein Rohrstück ab - ohne daß es jemand bemerkte.
- Ein tragbarer Geigerzähler (fachlich: "Unterwasser-Dosisleistungsmessgerät") hätte die Arbeit laut Leibstadt-Direktor Pfeiffer "behindert, da der Taucher für seine Arbeit beide Hände brauchte". Im Ensi-Bericht heißt es hingegen: Ein solches Gerät "stand nicht zur Verfügung".
- Die fünf Dosimeter, die der Taucher an sich trug, schlugen zwar akustisch Alarm, doch hörte der Taucher wegen der Sprechfunkverbindung zu seinem Kollegen am Beckenrand nichts davon.
- Einzig dieser Kollege - auch er kein Angestellter des AKW, sondern ein Leiharbeiter wie der Taucher selbst - sah die Bilder der Helmkamera des Tauchers. Er gab auch das Okay, das Rohrstück zu bergen. Die beiden Strahlenschutzexperten des AKWs - ebenfalls vor Ort - sahen laut Untersuchungsbericht weder auf den Monitor, noch griffen sie ein.
- Das sogenannte Fingerringdosimeter an der rechten Hand des Tauchers, das die genauesten Werte über die Strahlendosis hätte liefern können, war während des Tauchgangs nach offiziellen Angaben beschädigt worden. Laut dem Bericht der externen StrahlenschutzexpertInnen konnten vom Gerät "alle vier Teile geborgen werden". Danach wurden sie "minutiös unter der Lupe zusammengefügt und mit Hilfe eines Sekundenklebers geklebt". Die vom Dosimeter angezeigten Werte könnten deshalb auch "anders sein", folgern die ExpertInnen.
Heinz Smital Strahlenschutzexperte bei Greenpeace, erklärt, eine Radioaktivitäts-Dosis von 28 Millisievert abzubekommen, sei "massiv". Schließlich sei schon der Jahresdosisgrenzwert von 20 Millisievert sehr hoch angesetzt. "Das ist ein sehr ernster Vorfall, der auf grobe Mängel im Sicherheitsmanagement hinweist," so Smital.
Die wenig beruhigende Schlußbemerkung im Ensi-Bericht lautet: "Ein vergleichbares Vorkommnis ist auch in anderen Kernkraftwerken denkbar." Über Maßnahmen, dies in Zukunft auszuschließen, wurde bislang nichts bekannt.
Anmerkungen
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