Auch 85 Jahre nach dem Reichstagsbrand wird die These von der Alleintäterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe als historische Tatsache verbreitet. Wir stellen dem hier eine Darstellung gegenüber, die weitgehend auf den Forschungsergebnissen von Alexander Bahar und Wilfried Kugel beruht, die in deren Buch 'Der Reichstagsbrand | Wie Geschichte gemacht wird' veröffentlicht wurde.
Auch von den VertreterInnen der Alleintäter-These wird nicht bestritten, daß Brandstiftung im Spiel war und daß die seit dem 30. Januar amtierende Hitler-Regierung den Brand skrupellos für ihre Zwecke nutzte, indem sie ihn sofort und ohne jegliche Beweise den Kommunisten in die Schuhe schob und die Brandstiftung im Reichstagsgebäude kurzerhand zum Signal für einen angeblich unmittelbar bevorstehenden kommunistischen Aufstand erklärte. Bereits einen Tag nach dem Reichstagsbrand erließ die Hitler-Regierung die beiden Verordnungen "zum Schutz von Staat und Volk" und "gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe", mit denen die wesentlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt wurden. Die "Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" diente als offizielle Begründung.
Sechs Jahre darauf, am 1. September 1939, begann Deutschland den Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen. Einen Tag zuvor inszenierten SS-Leute, die als polnische Freischärler verkleidet waren, einen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz. Hitler brüllte vor dem Reichstag: "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen." Die Abwehr einer angeblichen polnischen Aggression diente so als Vorwand für den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Diese Propaganda-Aktion der Nazis zur Einstimmung der deutschen Bevölkerung auf den Krieg gilt heute unstrittig als historische Tatsache.
Die beiden am 28. Februar 1933 erlassenen "Notverordnungen" - so wurden die von der Regierung unter Ausschaltung des Parlaments verabschiedeten und von Hindenburg abgesegneten Verordnungen, wie sie seit der Ära Brüning Usus waren, genannt - bildeten die legalistische Grundlage der Nazi-Diktatur und blieben bis zum Ende des "tausendjährigen Reichs" in Kraft. Erst mit Hilfe dieser "Brandverordnungen", die der Hitler-Regierung auch die alleinige Verfügungsgewalt über die Presse und den Rundfunk sicherten und damit ungeahnte Propagandamöglichkeiten eröffneten, sowie flankiert vom Terror der SA, war es der NSDAP und ihren deutschnationalen Verbündeten möglich, bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 einen sicheren, wenn auch knappen Sieg einzufahren. Die Reichstagsmandate der KPD, der immerhin noch 12,3 Prozent der Wähler ihre Stimme gaben, wurden kassiert, ihre Nebenorganisationen in der Folge verboten.
Schon kurz nach dem Reichstagsbrand wurde im Ausland allgemein angenommen, daß die Nazis, an der Spitze Göring, die Urheber der Brandstiftung seien. Dies war auch der Tenor des im Sommer 1933 unter Leitung von Willi Münzenberg, Chef des KPD-eigenen "Münzenberg-Konzerns", veröffentlichten "Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror". Darin versuchten deutsche Emigranten, den Beweis zu führen, daß die deutschen Faschisten den Brand von langer Hand vorbereitet hatten. Neben zahlreichen Indizien legten die Autoren auch erstmals eine umfassende Dokumentation nazistischer Gewaltverbrechen an zumeist linken Oppositionellen vor.
Im "Reichstagsbrandprozeß" vor dem Leipziger Reichsgericht wurde zu jener Zeit noch versucht, den Schein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Der von den Nazis behauptete kommunistische Aufstand konnte nicht bewiesen werden. Vier neben Marinus van der Lubbe vor Gericht gestellte kommunistischen Angeklagte wurden "mangels Beweisen" freigesprochen. Darunter waren der spätere Generalsekretär der Komintern und Ministerpräsident Bulgariens Georgi Dimitroff und der damalige Vorsitzende der KPD-Reichstagsfraktion Ernst Torgler.
Bereits kurz darauf schwenkten die Nazis auf den Kurs um, van der Lubbe als Alleintäter darzustellen. Urheber dieser Legende war der erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels, Organisator der Großrazzia unmittelbar nach dem Reichstagsbrand. Bereits sechs Stunden vor dem Brand hatte Diels, damals noch Chef der Preußischen Politischen Polizei, in einem Polizeifunktelegramm vor kommunistischen Provokationen am Tage der Reichstagswahl gewarnt: "Geeignete Gegenmaßnahmen sind sofort zu treffen, kommunistische Funktionäre erforderlichenfalls in Schutzhaft zu nehmen."
Anhand von Originalakten konnten Alexander Bahar und Wilfried Kugel rekonstruieren, daß Hermann Göring, damals Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Innenminister in Preußen, bereits viel früher im brennenden Reichstagsgebäude war als er nach der offiziellen Benachrichtigung hätte eintreffen können. Göring, damals in Personalunion auch Reichstagspräsident und Chef der preußischen Polizei, muß also bereits vor Ausbruch des Brandes von diesem Kenntnis gehabt haben. Wie eine Analyse von Görings Verlautbarungen nach dem Brand und seiner Aussagen vor dem Leipziger Reichsgericht zeigt, verfügte der zweite Mann in der Nazihierarchie über ein umfassendes "Täterwissen".
Görings Behörde war es auch, die als erste darauf hinwies, daß die Brandstifter durch den unterirdischen (Heizungs-)Tunnel entflohen seien, der das Reichstagspräsidentenpalais mit dem Reichstagsgebäude verband. Marinus van der Lubbe war an der eigentlichen Brandstiftung so gut wie nicht beteiligt. Er war ein Strohmann, der Naziprovokateuren in die Falle gegangen war. Nicht nur van der Lubbes eigene widersprüchliche Angaben, auch die Sachverständigengutachten und der Bericht eines ehemaligen Funktionärs der rätekommunistischen Allgemeinen Arbeiterunion (AAU), mit deren Berliner Mitgliedern van der Lubbe wenige Tage vor dem Brand Kontakt gehabt hatte, legen diesen Schluß nahe.
Die Verhaftungsaktion in der Brandnacht hatten die Nazis von langer Hand geplant. Dies belegt unter anderem ein Schreiben des von Göring eingesetzten "Höheren Polizeiführers West / Sonderkommissar des Ministers des Innern", Polizeigeneral Arthur Stieler von Heydekampf, an "alle staatlichen Polizeiverwalter, Gemeindepolizeiverwalter aller kreisfreien Städte und Landräte". Diese wurden ersucht, "bis zum 26. Februar 1933 (...) ergebenst hier Listen vorzulegen" mit den Namen und Adressen von Führern der KPD und kommunistischen Nebenorganisationen wie R.G.O., Kampfbund gegen den Faschismus, RFB (damals schon verboten), Sport- und kulturellen Organisationen wie auch den Führern der Freien Gewerkschaften. Sechs Stunden vor dem Reichstagsbrand warnte der erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels, Organisator der Verhaftungsaktion in der Brandnacht, in einem Polizeifunktelegramm vor kommunistischen Provokationen am Tage der Reichstagswahl: "Geeignete Gegenmaßnahmen sind sofort zu treffen, kommunistische Funktionäre erforderlichenfalls in Schutzhaft zu nehmen."
Eine Reihe von wichtigen Dokumenten sind während der Nazizeit verschwunden, so insbesondere das Aussageprotokoll des später von der Gestapo ermordeten SA-Mannes Adolf Rall mit detaillierten Angaben über ein SA-Sonderkommando zur Brandstiftung. Das Ermittlungsverfahren gegen Ralls Mörder wurde von Göring höchstpersönlich niedergeschlagen. Weiterhin verschwand der vom Leiter der Berliner Feuerwehr, Oberbranddirektor Walter Gempp, verfaßte "Bericht der Berliner Feuerwehr". Gempp selbst wurde kurze Zeit darauf seines Amtes enthoben und unter dem Vorwand der Korruption verurteilt. Er soll im Gefängnis Selbstmord verübt haben.
Die Existenz eines SA-Brandstifterkommandos, das einige Zeit vor dem Reichstagsbrand Brandanschläge mittels einer leichtentzündlichen Flüssigkeit durchgeführt hatte, wird durch weitere bisher unbekannte Quellen und Zeugenaussagen belegt. Recherchen der Autoren stützen den Verdacht, daß zu diesem Kommando auch der damalige SA-Führer Hans Georg Gewehr gehörte, ein Freund des am 30. Juni 1934 erschossenen Berliner SA-Gruppenführers Karl Ernst. Gewehr war 1946 von dem früheren Gestapo-Mitarbeiter und späteren Mitverschwörer des 20. Juli 1944 Hans Bernd Gisevius als technischer Leiter der Brandstiftung genannt worden. In die Vorbereitungen der Brandstiftung verwickelt war nach seinen eigenen Aussagen (die von dem bekannten Bauhaus-Designer Prof. Wilhelm Wagenfeld überliefert wurden) auch der spätere Betriebsführer der Vereinigten Lausitzer Glaswerke (VLG) Dr. Bruno Kindt. Der studierte Chemiker rechnete es sich gegenüber Wagenfeld als Verdienst an, die benötigte Menge an Brandmaterial richtig vorausberechnet zu haben.
Von diesen Plänen muß auch Erik Jan Hanussen, der später ermordete "Hellseher Hitlers", erfahren haben. Hanussen war, obwohl Jude, ein Intimus der Berliner SA-Größen Karl Ernst und Graf Wolf von Helldorf und machte lange vor dem 27. Februar 1933 in seiner Hanussen-Zeitung detaillierte Angaben über die bevorstehende Brandstiftung.
Aufschlußreich ist ferner, daß der Freispruch des im Leipziger Reichstagsbrandprozesses mitangeklagten ehemaligen Chefs der kommunistischen Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, von Anfang an feststand. Torgler, der gut mit Rudolf Diels bekannt war, hat spätestens seit 1933 mit dem Naziregime kollaboriert. Gegen die Weisung seiner Partei ließ Torgler sich im Verfahren von dem NS-Staranwalt Alfons Sack verteidigen, was seinen Ausschluß aus der KPD zur Folge hatte.
Eine Reihe von mysteriösen Morden und Todesfällen im Anschluß an den Reichstagsbrand (Walter Gempp, Adolf Rall, Dr. Georg Bell, Dr. Ernst Oberfohren, Karl Reineking und andere) lassen sich aufgrund erdrückender Indizien unschwer mit der Brandstiftung in Verbindung bringen. Ganz offensichtlich wurden so lästige Mitwisser beseitigt.
Der Reichstagsbrand kam den Nazis aus innenpolitischen Gründen wie gerufen - noch kurz vor den von Hitler auf den 5. März 1933 vorgezogenen Neuwahlen waren die Aussichten für die NSDAP alles andere als günstig - Partei und SA waren vom Zerfall bedroht. Obwohl sie wenige Tage vor dem Brand in "unterirdischen Katakomben" des Karl-Liebknecht-Hauses (KPD-Zentrale) Material für einen geplanten kommunistischen Umsturz gefunden haben wollten, darunter Pläne für die "Inbrandsetzung öffentlicher Gebäude", unterließen es die Nazis, das Reichstagsgebäude zu bewachen. Es versteht sich beinahe von selbst, daß diese Pläne trotz der großspurigen Ankündigung Görings nie veröffentlicht wurden.
Der frühere Gestapo-Chef Diehls strickte mit Hilfe ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter nach Ende des Zweiten Weltkriegs ab 1949 an seiner Rechtfertigungsgeschichte, in der der Reichstagsbrand eine zentrale Rolle spielte.1 1949 präsentierte die Zeitschrift 'Neue Politik' des Schweizer Nazikollaborateurs Wilhelm Frick eine Artikelserie "Der Reichstagsbrand in anderer Sicht". Hinter dem anonymen Autor verbarg sich Diels' ehemaliger Adlatus Heinrich Schnitzler - unter anderem Mitorganisator der von Diels geleiteten Massenverhaftungen in der Brandnacht. Nach 1945 reüssierte Schnitzler als Ministerialrat in der Polizeiabteilung des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen. Die Nachkriegskorrespondenz zwischen Diels und Schnitzler enthüllt, wie sich die beiden für ihre Entnazifizierung abstimmten. Diels: "Es scheint mir wichtig, unsere Arbeit als eine einheitliche Widerstandsleistung darzustellen, die zunächst den Gang der Entwicklung weg vom Rechtsstaat und hin zum reinen Terrorismus verzögert hat."
1959 erklärte dann der 'spiegel' in einer groß angelegten Serie den Reichtagsbrand zum Werk eines Einzeltäters. Fritz Tobias, ein Hobby-Historiker und bis dahin unbekannter Beamter des Verfassungsschutzes behauptete als deren Autor, beweisen zu können, daß van der Lubbe den Reichtstag allein angezündet habe.2 Fritz Tobias stützte sich dabei einseitig auf voreingenommene Zeugen, nämlich auf den schon erwähnten Gestapo-Chef Rudolf Diels und dessen ehemalige Mitarbeiter, die im Faschismus Karriere machten und nach dem Krieg im Polizei- und Verwaltungsapparat der Bundesrepublik Deutschland Verwendung fanden. Im 'spiegel' selbst hatte ein gewisser Paul Karl Schmidt alias Paul Carell, vormals Pressechef von NS-Außenminister Ribbentrop und Spezialist für antisemitische Provokationen, bereits drei Jahre vor Erscheinen der Reichstagsbrandserie von Fritz Tobias die These von der Alleintäterschaft Marinus van der Lubbes lanciert.3 Schmidt-Carell war übrigens auch derjenige, der das Manuskript von Fritz Tobias für den 'spiegel' als erster redigierte.
Die Nazis seien vom Reichstagsbrand völlig überrascht worden und hätten ehrlich an ein kommunistisches Attentat geglaubt. Keine zielgerichtete Planung also, sondern ein "blinder Zufall" und geschicktes Improvisieren hätten Hitler und Konsorten in den Alleinbesitz der Macht gebracht - eine These, die der 'spiegel' - unbeeindruckt von allen gegenteiligen Forschungsergebnissen - immer wieder aufwärmte.4 Die Darstellung der Nazitäterschaft wies Tobias als angebliche kommunistische Propagandalüge zurück.
Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München beauftragte damals seinen jungen Mitarbeiter Hans Mommsen, die Arbeit von Tobias zu prüfen. Statt einer kritischen Analyse lieferte der karrierebewußte Nachwuchswissenschaftler eine mehr oder weniger vollständige Übernahme der Darstellung des Hobby-Historikers, ohne die zahlreichen Irrtümer, Verzerrungen und Manipulationen zu bemerken - oder bemerken zu wollen -, die von der Forschung nachträglich festgestellt worden sind. Zuvor hatte Mommsen mit allen (auch unlauteren) Mitteln dafür gesorgt, daß ein anderer Wissenschaftler, der Historiker und Oberstudienrat Dr. Hans Schneider, der die Thesen von Tobias als haltlos entlarvt hatte5, mit fadenscheinigen Argumenten ausmanövriert wurde.
"Daß die 'herrschende' Meinung der Historiker weithin dem von Mommsen 'wissenschaftlich' Abgesegneten folgte, hängt zum einen damit zusammen, daß die meisten Historiker bei Mommsen zitatgetreu abschrieben, aber nicht selbst recherchierten. Zum anderen schien die Frage Einzeltäterschaft oder Nazi-Täterschaft an der Interpretation der Nazi-Herrschaft insgesamt nicht viel zu ändern", so der Berliner Politikwissenschaftler Prof. Wolf-Dieter Narr.6
Alle Versuche, die Alleintäterthese zu erschüttern, scheiterten in der Folge über viele Jahre hin an der Meinungsführerschaft des 'spiegel'. Unterstützt vom Hamburger Nachrichtenmagazin, bald darauf auch von 'Zeit', FAZ, 'Welt' und Co. wurde die Alleintäterthese Bestandteil des Kanons der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. Wer an der Tatversion des Fritz Tobias zweifelte, der wurde bald selbst vom Hamburger Nachrichtenmagazin aufs Korn genommen. Und wieder war der Verfassungsschutz mit von der Partie: diesmal mit den Herausgebern der Jahrbücher 'Extremismus&Demokratie', Eckhard Jesse und Uwe Backes.7 Bis vor wenigen Jahren galt die Alleintäterthese gewissermaßen als offizielle Lehrmeinung - so jedenfalls wird sie von einem Großteil der meinungsführenden deutschen Medien präsentiert, erneut anläßlich der Urteilsaufhebung durch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe am 6. Dezember 2007. In den vergangenen Jahren jedoch scheint die Zunft der HistorikerInnen sich darauf geeinigt zu haben, den Fall als "ungeklärt" zu deklarieren.
Dabei haben sich zwischenzeitlich weitere Anhaltspunkte für die Unhaltbarkeit dieser These ergeben. Als sich nach dem Zusammenbruch der DDR Anfang der 1990er Jahre die Archive in Ostdeutschland öffneten, waren auch die Originalakten des Reichstagsbrandprozesses von 1933 (von Politischer Polizei, Reichsgericht und Oberreichsanwalt) erstmals allgemein zugänglich. Alexander Bahar gehört zu den ersten Forschern, die diese Akten einsehen und vollständig auswerten konnten. Die Ergebnisse dieser Forschungen bestätigen in weiten Teilen die Erkenntnisse, zu denen eine interdisziplinäre Forschergruppe um den Schweizer Historiker und ehemaligen Direktor des Historischen Instituts der Universität Bern, Prof. Walther Hofer, bereits in den 1970er Jahren gelangt war.8
Kernstück der damaligen Untersuchungen, an denen auch der spätere Direktor des Schweizerischen Bundesarchivs Christoph Graf leitend mitgewirkt hatte, war ein Gutachten des Thermodynamischen Instituts der TU Berlin. Die Expertise gelangte zu dem eindeutigen Schluß, daß Marinus van der Lubbe den Großbrand im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes unmöglich allein in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit und mit den von ihm verwendeten Brandmitteln (Kohlenanzünder) verursacht haben konnte - es sei denn, der Raum wäre zuvor entsprechend präpariert gewesen. Die Expertise bestätigte die Gutachten der seinerzeit vom Reichsgericht bestellten Sachverständigen, die, bei Unterschieden im Detail, zum gleichen Ergebnis gekommen waren, nämlich, daß van der Lubbe Mittäter gehabt haben muß. Einer dieser Gutachter, der chemische Brandsachverständige Dr. Wilhelm Schatz, hatte überdies an allen Brandstellen des Plenarsaals Spuren einer selbstentzündlichen Flüssigkeit entdeckt (Phosphor in Schwefelkohlenstoff), die identisch ist mit der Substanz, die seinerzeit auch die Berliner SA benutzt hatte, um beispielsweise gegnerische Plakate zu zerstören.
Die Auswertung der nun zugänglichen Ermittlungsakten ergab, daß van der Lubbe noch weniger Zeit für die Brandlegung im Reichstagsgebäude gehabt hatte, als man bislang annahm: nämlich nur maximal 15 Minuten. Und die Nazigrößen Hitler, Göring und Goebbels - auch dies geht aus den Akten hervor - waren weit früher am Tatort, als sie gegenüber dem Reichsgericht zugaben. Im Falle Görings läßt dies nur den Schluß zu, daß er vorab von der Brandstiftung informiert gewesen sein muß.
Inzwischen wurden weitere brandtechnische Untersuchungen durchgeführt, die eine Alleintäterschaft van der Lubbes so gut wie ausschließen. Eine Untersuchung des Allianz-Zentrums für Technik (AZT) aus dem Jahr 2005 kam zu dem eindeutigen Ergebnis: "Mit den Mitteln (...), die van der Lubbe verwendet haben soll, hätte die Zeit nicht ausgereicht - es sei denn, er hatte Helfer", so Gutachter Dr. Peter Schildhauer. Ein identisches Ergebnis erbrachte ein Experiment im Rahmen der ZDF-Sendung 'Abenteuer Wissen', das im Juni 2007 unter Beobachtung der Berliner Feuerwehr und des Landeskriminalamts Berlin durchgeführt wurde. Bei den Brandversuchen wurden Materialien verwandt weitgehend ähnlich denen, die sich 1933 im Plenarsaal befanden; van der Lubbes Weg durch das Reichstagsgebäude wurde auf Basis der originalen Ermittlungsakten rekonstruiert. Dabei zeigte sich, daß er in der kurzen Zeit gerade einmal seine Jacke in Brand setzen konnte, nicht aber den Vorhang, mit dem er angeblich das Feuer im Plenarssal gelegt haben will.
Bis heute haben die Anhänger der Einzeltäterthese keinerlei Forschungsergebnisse vorgelegt, die ihre These stützen oder auch die oben genannten wissenschaftlichen Gutachten und Expertisen widerlegen würden. Außer unbewiesenen Behauptungen sowie offenkundigen Manipulationen haben sie nichts zu bieten. Auch eine von Mommsen angeregte semi-fiktionale Publikation9 folgt dieser Linie. Alle Fakten, die der Alleintäterthese zuwiderlaufen, werden darin konsequent ignoriert, geleugnet oder ins Gegenteil verkehrt. Mommsen steuerte zu der Propagandabroschüre sogar ein Vorwort bei. Darin brandmarkte der Großhistoriker in einem Rundumschlag alle als "Verschwörungstheoretiker", die wie der bekannte Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher nach wie vor nicht an die Alleintäterthese glauben wollen. Das einzig Neue: die Behauptung, mittels des sogenannten Backdraft-Effekts sei der Reichstagsbrand spielend als das Werk eines Einzelnen zu erklären. "Zum Phänomen des 'Backdraft' passen alle bekannten Details des Brandes im Reichstagsplenarsaal", heißt es darin. Damit hat der Verfasser freilich ein fulminantes Eigentor geschossen. "Unterstellt man die Richtigkeit dieser Aussage", so Prof. Karl Stephan vom Institut für Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik der Universität Stuttgart, "so beweist sie allerdings das Gegenteil von dem, was bewiesen werden soll, denn ein 'Backdraft' wäre vor allem dann wahrscheinlich, wenn man zuvor flüssige Brennstoffe in den Plenarsaal eingebracht hätte". Stephan folgert: "Keinesfalls läßt sich damit die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes begründen."
Marinus van der Lubbe wurde am 23. Dezember 1933 wegen Hochverrats und Brandstiftung zum Tode verurteilt. Er wurde am 10. Januar 1934 mit dem Fallbeil ermordet. Das Reichsgericht hatte ihn für schuldig befunden, das Reichstagsgebäude in Berlin in Brand gesetzt zu haben. Van der Lubbe war am 27. Februar 1933 gegen 21.23 Uhr im brennenden Reichstag festgenommen worden. In seiner Manteltasche hatte man Reste von Kohlenanzündern gefunden.
Am 6. Dezember 2007 hob die deutsche Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe das Todesurteil gegen van der Lubbe "von Amts wegen" auf. Grundlage für diesen förmlichen Akt ist das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998. Begründet wurde die Aufhebung des Urteils gegen van der Lubbe konkret damit, daß dieses auf der Grundlage zweier NS-Unrechtsvorschriften zur Durchsetzung der Naziherrschaft zustande gekommen war. Um van der Lubbe zum Tode verurteilen zu können, hatte die Hitler-Regierung am 29. März 1933 ein weiteres Gesetz erlassen, das sogenannte Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe, auch "Lex van der Lubbe" genannt, weil es ausschließlich auf den Holländer zielte. Dieses Gesetz verstieß gleich in zweifacher Hinsicht gegen rechtsstaatliche Prinzipien: einmal gegen das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege), zum anderen gegen den Grundsatz, daß Gesetze allgemeingültig sein müssen. Mit der formalen Aufhebung des Todesurteils gegen van der Lubbe hat die höchste deutsche Anklagebehörde (nicht etwa ein Gericht) die Akte Reichstagsbrand nach der übereinstimmenden Ansicht von StrafrechtlerInnen endgültig geschlossen. Umgangen wurde so eine Untersuchung der Täterschaft van der Lubbes.
Anmerkung
1
Vgl. auch: Rudolf Diels: "Die Nacht der langen Messer ... fand nicht statt". Der Spiegel, Hamburg, 7.7.1949. Rudolf Diels: Lucifer ante portas, Zürich 1949, Stuttgart 1950
2
"Stehen Sie auf, van der Lubbe". Der Reichstagsbrand 1933 - Geschichte einer Legende. Nach einem Manuskript von Fritz Tobias, in: Der Spiegel, 43/1959-1-2/1960. Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand: Legende und Wirklichkeit, Rastatt 1962.
3
"Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt". Die Serie mit dem Untertitel: "Gehenkte machen Revolution. Vom Schicksal der Laszlo Rajk, Traitscho Kostoff, Rudolf Slansky und anderer geehrter Toter." begann im 'spiegel' 10. Jg. Nr.46 vom 14.11.1956. Die 9. Folge (11. Jg. Nr. 3 vom 16.1.1957) bezog sich dezidiert auf van der Lubbe. Schmidt versuchte darin den Nachweis zu erbringen, daß der Angeklagte während des Prozesses keinesfalls unter Drogen gestanden haben könne. Van der Lubbes Aussage, er sei der allein verantwortliche Täter gewesen, erklärte Schmidt für glaubhaft, den Reichstagsbrandprozeß stellte er als im wesentlichen rechtsstaatliches Verfahren dar. Wigbert Benz: Paul Carell. Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945, Berlin 2005.
4
Ernst Piper: "Als der Reichstag brannte", spiegel-online,, 8. Februar 2008; "Flammendes Fanal", 25.02.2008, spiegel TV, 22.50-23.20 Uhr, SAT.1
5
Die Arbeit wurde erst 40 Jahre später, lange nach dem Tod Schneiders veröffentlicht (Hans Schneider: Neues zum Reichstagsbrand? Eine Dokumentation. Ein Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung, Berlin 2004.)
6
Leserbrief "Einzeltäterthese ist falsch", in: FAZ, 21.01.2008.
7
U. Backes. K. H. Janßen, E. Jesse, H. Köhler, H. Mommsen, F. Tobias: "Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende", München 1986
8
Walther Hofer, Eduard Calic, Christoph Graf, Friedrich Zipfel: "Der Reichstagsbrand. Eine Dokumentation", neu hg. u. bearb. von Alexander Bahar, Freiburg i. Br. 1992
9
Autor ist der 'Welt'-Redakteur S. F. Kellerhoff. Das Büchlein wurde im Vorfeld des 75. Jahrestags in einer konzertierten Aktion vom 'spiegel' und der Springer-Presse gepusht und hoch gelobt.
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