Zum Dogma vom Wirtschaftswachstum und den Ursachen der Arbeitslosigkeit
Ob es um die Bekämpfung der Massenerwerbslosigkeit, die
Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, die Konsolidierung der
Staatshaushalte, die Armutsbekämpfung, den sozialen Frieden oder
gar den Umweltschutz geht: "Wirtschaftswachstum" gilt heute für
Politiker jeder Couleur und Nationalität - und auch für einen
großen Teil der außerparlamentarischen Kräfte in Deutschland - als
entscheidende Voraussetzung zur Lösung der drängenden Gegenwarts-
und Zukunftsprobleme.
Der Glaube an diese magische Größe hat mittlerweile geradezu
religiöse Formen angenommen: Das Wachstum wird von prophetisch
auftretenden Auguren erahnt, beschworen und mit den seltsamsten
Praktiken, die eher ritueller als wirtschaftspolitischer Natur
sind, herbeigebetet, gerade so als handele es sich um das Kommen
des Messias selbst, der uns von allen Übeln dieser Welt befreien
soll. Auf dem Altar des ersehnten "Aufschwungs" werden hart
erkämpfte soziale Errungenschaften der letzten 150 Jahre ebenso
geopfert wie die Zukunft kommender Generationen, die eine vom
ökologischen Kahlschlag verwüstete Welt werden bewohnen müssen.
Dabei wird niemals die nüchterne Frage gestellt, was eigentlich
tatsächlich wächst, wenn davon die Rede ist, daß "die Wirtschaft"
wächst. Stillschweigend wird angenommen, daß das
Bruttoinlandsprodukt (BIP), mit dem die Wirtschaftsleistung
gemessen wird, gleichbedeutend mit allgemeinem Wohlstand sei.
Indes mißt das BIP durchaus nicht einen wie auch immer zu
definierenden realen Wohlstand, sondern lediglich Geldströme.
Wodurch diese Geldströme zustande kommen - ob durch allgemein
nützliche oder schädliche Aktivitäten - ist daraus ebensowenig zu
erkennen wie Ursprung und Ziel dieser Geldströme.
So schlägt etwa die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen,
von denen jeder Wohlstand letztlich abhängt, stets positiv im BIP
zu Buche, ob es sich dabei um das Leerfischen von Fischgründen, die
Abholzung von Wäldern, die Degradation von Böden durch intensive
Landwirtschaft, die Versiegelung von Flächen oder die Überhitzung
der Erdatmospäre handelt. In all diesen Fällen wird lebenswichtiges
Naturkapital zerstört - teils unwiderruflich - und doch steigt
dabei das BIP und mit ihm die Illusion, wir hätten an Wohlstand
gewonnen.
Das BIP und der ihm zugrundeliegende monetäre Wirtschaftsbegriff
sind aber nicht nur gegenüber den Realitäten der Biosphäre in
gefährlicher Weise blind, sondern auch gegenüber den sozialen
Lebensgrundlagen. So finden alle nicht in Geldwerten bezahlten
Tätigkeiten, auf denen die Gesellschaft beruht, wie etwa die
Kindererziehung, die Haushaltsarbeit sowie die gesamte
Subsistenzwirtschaft, von der heute noch ein Drittel der Menschheit
lebt, keinerlei Eingang in das BIP.
So kann es geschehen, daß eine Gesellschaft bei anhaltendem
Wachstum zugleich immer ärmer an realem volkswirtschaftlichen
Vermögen und Lebensqualität wird. Alternative Wohlstandsindizes (so
z.B. der Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW) oder der
Genuine Progress Indicator (GPI)), die nicht nur die Geldströme,
sondern auch Faktoren wie Ressourcenbestand, Gesundheit,
Verteilungsgerechtigkeit etc. einbeziehen, deuten darauf hin, daß
in den Industriestaaten seit Ende der siebziger Jahre die
durchschnittliche Lebensqualität bei anhaltendem Wachstum sinkt,
wogegen sie in der Aufbauphase der Nachkriegszeit parallel zum BIP
anstieg. Eine Steigerung des BIP kann also mit einer Erhöhung der
Lebensqualität einhergehen, jedoch ebenso in das Gegenteil
umschlagen.
Und das Gegenteil ist längst der Fall, zumal wenn man die
Perspektive über die nationale Ökonomie hinaus ausdehnt und
bedenkt, daß auch die realen Wohlstandszuwächse des Nordens oft
genug auf Kosten anderer Erdteile erwirtschaftet wurden und werden.
Das Wachstum der Industrieländer beruht seit der Kolonialzeit zu
einem wesentlichen Teil auf asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen,
die eine Extraktion billiger Ressourcen aus dem Süden erlauben.
Dieses System von strukturellem Dumping wird heute vor allem durch
die Bretton-Woods-Institutionen (WTO, IWF, Weltbank)
fortgeschrieben - im Namen eines Wachstums, das vor allem den
Kapitalinteressen des Nordens dient. Stiegen die Rohstoffpreise auf
ein Niveau, das den ökologischen und sozialen Raubbau in den
Ländern des Südens stoppen würde, so wäre es mit den
Wachstumsaussichten im Norden ohnehin vorbei.
Was also Not tut im Sinne der Gerechtigkeit sowohl zwischen Nord
und Süd als auch zwischen den heutigen und künftigen Generationen,
ist eine Abkehr vom Dogma des BIP-Wachstums, dessen soziale und
ökologische Schäden in vielen Bereichen längst den Nutzen
überwiegen. Die vielfach zitierten Konzepte vom "qualitativen" oder
gar "nachhaltigen" Wachstum bieten dazu jedoch keine ernsthafte
Hilfe. Diesen Konzepten liegt die Vorstellung zugrunde, daß eine
technische Effizienzsteigerung in der Güterproduktion sowie eine
Zunahme des Dienstleistungssektors am BIP den Ressourcenverbrauch
so weit reduzieren könnten, daß genügend ökologischer Spielraum für
weiteres BIP-Wachstum - auch in den Industrieländern - geschaffen
würde.
Die Tatsache aber, daß die Industrieländer mit 20 Prozent der
Weltbevölkerung schon heute die gesamte biologisch produktive
Fläche der Erde beanspruchen, bedeutet, daß der Norden, um auf ein
gerechtes und wirklich nachhaltiges Niveau zu kommen, bereits bei
konstantem BIP ("Nullwachstum") seinen Ressourcenverbrauch um den
Faktor 5, also um 80 Prozent senken müßte. Bei einer von unseren weisen
Wirtschaftslenkern ersehnten Wachstumsrate von 3 Prozent, durch die sich
das BIP in knapp 50 Jahren vervierfachen würde, müßte der
Ressourcenverbrauch für jeden erwirtschafteten Euro bereits um den
Faktor 20 (= 95 Prozent) gesenkt werden - ein Szenario, das selbst
eingefleischte Technikoptimisten für unmöglich halten. (Diese
Rechnung läßt sich beliebig fortsetzen: In knapp 100 Jahren hätte
sich das deutsche BIP versechzehnfacht und damit das Niveau des
gesamten heutigen Weltsozialprodukts erreicht. Der
Ressourcenverbrauch müßte dann um den Faktor 80 (= 98,75 Prozent) sinken.
Es ist offensichtlich, daß die Idee endlos fortgesetzen Wachstums
nur in die Absurdität führen kann.)
Nun will es einem nüchternen (und vielleicht etwas naiven)
Beobachter, der nicht vom allgemeinen Wachstumsglauben angesteckt
ist, auch durchaus nicht einleuchten, warum in einer Gesellschaft,
in der so viele Güter und (bezahlte) Dienstleistungen wie nie zuvor
in der Geschichte der Menschheit produziert werden und die geradezu
in der Masse des Produzierten erstickt, immer noch mehr produziert
werden muß. Ließe sich nicht, wie es auch schon John Stewart Mill
1848 zu denken wagte, auf dem erreichten Niveau Halt machen und die
künftige Energie darauf verwenden, das Notwendige mit weniger
Aufwand an Ressourcen herzustellen und gerechter zu verteilen? Oder
anders gefragt: Wer in den Industrieländern braucht heute
eigentlich noch Wirtschaftswachstum und wozu?
Die Arbeitslosen, in deren Namen das Wachstum beschworen wird, sind
es sicherlich nicht. Während in der Zeit von 1991 bis 2003 das BIP
in der Bundesrepublik real (inflationsbereinigt) um gut 16 Prozent
gewachsen ist, hat die Arbeitslosigkeit zugleich um 56 Prozent zugenommen.
Um wen geht es also dann? Zum einen natürlich um Unternehmer und
andere Kapitalbesitzer, deren Gewinnaussichten von den
Wachstumsraten abhängig sind. Je mehr eine Gesellschaft von den
Interessen der Kapitalakkumulation dominiert wird, desto süchtiger
ist sie nach Wachstum. Zum anderen geht es aber auch um den Staat
und die sozialen Sicherungssysteme. Obwohl man meinen sollte, daß
bei konstantem BIP auch die Steuereinnahmen des Staates konstant
blieben, erleben wir, daß Finanzminister Schweißausbrüche bekommen,
wenn die Wachstumsraten unter 2 Prozent liegen. Das hat zum einen damit zu
tun, daß sich der Staat durch großzügige Steuerleichterungen für
Unternehmen und Spitzenverdiener ständig seiner eigenen
Einkommensbasis beraubt und diese durch Wachstum zu kompensieren
versucht. Zum anderen belastet die hohe Arbeitslosigkeit die
Staatskasse und die sozialen Sicherungssysteme.
Die Arbeitslosigkeit aber ist keineswegs das Ergebnis zu geringen
Wachstums, wie es die herrschende Lehre verkündet, sondern vor
allem das logische Produkt gestiegener Arbeitsproduktivität, die
nicht in entsprechendem Maße in Arbeitszeitverkürzung umgesetzt
wurde.
Die Frage nach Alternativen zur Wachstumsideologie führt also
direkt zu Verteilungsfragen und verschärft diese erheblich. Während
die Interessengegensätze von Arbeit und Kapital in den 50er bis
90er Jahren durch eine ständige Vergrößerung des gesamten Kuchens
teilweise entschärft wurden - und während sich viele Neokeynesianer
eine Fortschreibung dieses Modells wünschen -, stößt eine
Perspektive jenseits des Wachstums mit wesentlich größerer Härte
auf die Notwendigkeit, "den Reichtum zu lindern", also der
Akkumulation von privatem Vermögen und Kapital entgegenzuwirken.
Von entscheidender Bedeutung, um eine Abkehr vom Wachstum in den
Industrieländern möglich, akzeptabel und nicht nur
"sozialverträglich", sondern gemeinwohlfördernd zu gestalten, wird
es daher sein, den Trend zur sozialen Schere umzukehren.
Arbeitszeitverkürzungen sowie die verstärkte Einbeziehung höherer
Einkommen und Vermögen in die Finanzierung der öffentlichen
Haushalte und der sozialen Sicherung sind hier zu nennen.
Darüber hinaus kann die Verlagerung der Steuerlast vom Faktor
Arbeit zu den Faktoren Energie und Kapital ein geeignetes
Instrument zu einer ökologisch und sozial sinnvollen
Beschäftigungspolitik sein (weniger produzieren, mehr reparieren).
Und nicht zuletzt wäre auch die Einführung alternativer
Wohlstandsindikatoren (Ökosozialprodukt, ISEW o. dergl.) in die
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ein wichtiger Schritt, um
den Kompaß, der uns zur Zeit in die Irre leitet, zu korrigieren.
All diese Konzepte setzen jedoch zugleich den entschiedenen Kampf
gegen die Logik der Standortkonkurrenz voraus, die alle
gesellschaftlichen Alternativen aushebelt. Nur wenn die auf EU- und
WTO-Ebene fortschreitende Liberalisierung gestoppt werden kann, ist
eine zukunftsfähige und menschenwürdige Wirtschaft jenseits des
Wachstums vorstellbar.
Fabian Scheidler
Anmerkungen:
Siehe auch folgende Artikel und Diskussionsbeiträge