2.03.2012

Bis heute keine Entschädigung
von "Euthanasie"-Opfern

Mit solchen Bussen... Die deutsche Bundes­regierung drückt sich weiterhin um eine Entschädigung von "Euthanasie"-Opfern. "Die Ent­schädigung von Opfern des NS-»Euthanasie«-Programms ist eine Geschichte des Scheiterns," kommentiert Ulla Jelpke, Bundestags- abgeordnete der Linkspartei, die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage.

Zwar hat der Bundestag vor über einem Jahr einmütig die Ausweitung der monatlichen Zahlungen für die Opfer von Zwangssterilisation auf die "Euthanasie"-Opfer beschlossen. Doch das Ergebnis sei bitter, erläutert Jelpke. Ausschließlich drei Personen sei dies seitdem zugute gekommen. "Das liegt im Wesentlichen daran, daß die Bundesregierung daran festhält, diese NS-Opfer unterschiedlich zu behandeln. Sie beschränkt die Anwendung des Bundestagsbeschlusses auf jene wenigen Menschen, die schon in eine der Tötungsanstalten eingeliefert und ihrer Ermordung in letzter Minute entgangen waren," kritisiert Jelpke. Die Abgeordnete fordert, die Bundesregierung solle ihre restriktive Begriffsinterpretation aufgeben und anerkennen, daß auch Kinder von "Euthanasie"-Geschädigten erhebliche Traumatisierungen und finanzielle sowie berufliche Nachteile erlitten haben.

Die bislang gezahlten Gesamtentschädigungssummen in Form von Einmalzahlungen und monatlichen Leistungen belaufen sich auf rund 70 Millionen Euro. Das dürfe jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, so Jelpke, daß eine Aufarbeitung der Entschädigungspolitik dringend notwendig ist. Erstmals 1980 wurde Opfern von Zwangssterilisierung ein Entschädigungsanspruch zugebilligt, den "Euthanasie"-Opfern erst im Jahr 1988. Insgesamt erhielten 13.816 Zwangssterilisierte und 333 "Euthanasie"-Geschädigte Einmalzahlungen. "Unterstützung in Form monatlicher Leistungen erhalten gegenwärtig noch 482 Zwangssterilisierte und die erwähnten drei "Euthanasie"-Geschädigten," erklärt Ulla Jelpke.

Wenig bekannt sind bislang die Hintergründe für diese seltsame Politik: Die jahrzehntelange Verweigerung jeglicher Entschädigungen ist laut Jelpkes Informationen maßgeblich darauf zurückzuführen, daß der "Wiedergutmachungsausschuß" des Bundestages 1961 diese Opfer der Nazipolitik ausgeschlossen hat. Jelpke fand heraus, daß "drei der damals angehörten Sachverständigen selbst Richter an sogenannten Erbgesundheitsgerichten waren beziehungsweise Menschenversuche durchgeführt haben." In Schriftstücken des Bundesfinanzministeriums würden diese Naziverbrecher noch heute als "führende Fachleute der Psychiatrie" bezeichnet. "Die Opfer können dies nur als anhaltende Verhöhnung ihres Schicksals begreifen," so Jelpke. Sie kündigt eine parlamentarische Initiativen der Bundestags-Fraktion der Linkspartei an, mit der durchgesetzt werden soll, daß auch die mittelbaren Opfern des "Euthanasie"-Programms zu ihrem Recht kommen.

Zwischen 1933 und 1945 fielen in Deutschland unter den verschiedensten Vorwänden in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten zwischen 70.000 und 120.000 Menschen als "lebensunwert" dem "Euthanasie"-Programm zum Opfer. In sechs über das Reichsgebiet verstreuten und als Heilanstalten getarnten Vernichtungslagern begann das erst später in Konzentrationslagern auf Juden, politische und andere Gefangene ausgeweitete industriell organisierte Massenmorden. Planungsvorgabe war die "Ausmerze" von einem Prozent der deutschen Bevölkerung und die Opferzahl belegt, daß rund jede dritte Familie in Deutschland betroffen ist. Doch auch heute noch wird dies in vielen Familien verschämt geschwiegen. Sei es, weil Krankheit, geistige Verfassung oder Homosexualität des Opfers noch immer als beschämend empfunden wird, sei es, weil die Rolle von Familienangehörigen gegenüber dem Opfer zwiespältig, distanzierend oder gar verbrecherisch war.

Manche der Opfer des "Euthanasie"-Programms waren bereits vor 1933 in geschlossenen Anstalten untergebracht. So wurde etwa eine 1931 im südbadischen Emmendingen eingelieferten Frau nach zehn Monaten wieder entlassen, jedoch vier Monate darauf "dauerhaft" eingewiesen. In einem Vermerk vom 26. November 1940 ist zu lesen, daß sie "aus planwirtschaftlichen Gründen verlegt" worden sei. Wie sich anhand der in Berlin befindlichen Akten, die von den Nazis akribisch geführt worden waren, verfolgen läßt, wurde die Frau 1940 im Ort Grafeneck auf der Schwäbischen Alb ermordet. In der dortigen Anstalt wurde erstmals die Vernichtung von Menschen mit eigens dazu konstruierten Gaskammern und Verbrennungsöfen auf industrielle Weise betrieben.

Bereits kurz nach Beginn der Nazi-Herrschaft im Jahr 1933 war ein "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", der Vorläufer des sogenannten Euthanasie-Erlasses in Kraft getreten. Bemerkenswert ist, daß auch die Nazis nicht so viel Macht hatten, ihre in Buchform von Adolf Hitler bereits Jahre zuvor propagierten Ziele offen umzusetzen. Von den christlichen Kirchen gab es gegen das staatliche Morden teils heftigen Widerstand. Und so wurde die Organisation der Vernichtung möglichst geheim gehalten. Von vier Institutionen, die mit der "Durchführung" betraut waren, war eine als "Stiftung" für die Beschaffung des Giftgases zuständig.

Die Fahrt mit den für diese Zwecke bereit gehaltenen Bussen in eine der sechs Vernichtungsanstalten wurde als Verlegung getarnt, die Areale dieser Anstalten mit 3 Meter hohen Bretterzäunen umgeben und mit Schildern mit der Aufschrift "Wegen Seuchengefahr gesperrt" versehen. Den Verwandten wurden fingierte Sterbeurkunden mit den verschiedensten, mehr oder weniger unauffälligen Todesumständen zugesandt. Die Urnen der in Gaskammern Ermordeten wurden den Angehörigen an einen von diesen zu bestimmenden Friedhof und nach Vorlage der ordnungsgemäßen Anträge kostenlos überstellt.

Trotz der Todesurkunden wußten die Verwandten häufig Bescheid. Auch kam es immer wieder vor, daß Menschen ihren Angehörigen nachforschten und versuchten, einen Blick über die Zäune zu werfen. Auch durch beteiligte Ärzte drangen immer wieder Informationen nach außen. Doch die in Deutschland auch heute noch nicht seltene Mentalität der Ausgrenzung Schwacher oder "Abartiger" und ein weit verbreitetes, entschiedenes Nicht-Wissen-wollen begünstigte das Verbrechen der "Euthanasie".

Daß auch 60 Jahre später das der "Euthanasie" zugrunde liegende Denken in Kategorien von lebenswert und lebensunwert nicht völlig verschwunden ist, zeigte vor wenigen Jahren die von Ärztepräsident Karsten Vilmar angestoßene Debatte über ein "sozialverträgliches Frühableben" oder das Infragestellen von Hüftgelenks-Operationen für Menschen ab einem bestimmten Alter. In beiden Fällen wird dem Menschen kein absoluter Wert zugebilligt, sondern werden Menschen entsprechend ihrer "Nützlichkeit" bewertet.

 

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