Rund 42.000 Menschen haben sich am Samstag an den Demonstrationen gegen Sozialabbau in Stuttgart und Berlin beteiligt. Außer Ver.di hatten sich die Gewerkschaften nicht an der Mobilisierung beteiligt. Viele Menschen waren trotz fehlender Gewerkschafts-Busse auf eigene Initiative zu den Demonstrationen gefahren. Zugleich gab es von linker Seite Kritik an dem Verzicht auf die Forderung nach politischem Generalstreik und der Parole "Wir zahlen nicht für eure Krise," mit der so nur die eigene Wehrlosigkeit hervorgehoben werde. Am 28. März 2009 hatten unter derselben Parole in Frankfurt und Berlin noch rund 50.000 Menschen demonstriert.
In Stuttgart nahmen nach Angaben der VeranstalterInnen 22.000 Menschen an der Kundgebung teil. Neben dem Plakat-Motto "Wir sind alle GriechInnen" und dem besonders von der Gewerkschaft Ver.di bereits im vergangenen Jahr hochgehaltenen Parole "Wir zahlen nicht für eure Krise" war in Stuttgart auch "Das nennt ihr gerecht? Gerecht geht anders!" an der RednerInnen-Tribüne zu sehen. Wie kaum anders zu erwarten verlor der "grüne" Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske kein Wort darüber, wie der vor wenigen Tagen von der Bundesregierung angekündigten neuen Welle von Sozialabbau wirksam entgegen getreten werden könnte. Statt dessen redete er nur allgemein von einem "Protest", den die "schwarz-gelbe" Regierung nun zu erwarten habe. Der Widerstand müsse - so Bsirske - in die Fläche, in die Betriebe und in die Verwaltungen getragen werden.
Auch der baden-württembergische DGB-Vorsitzende Nikolaus Landgraf vermied das Wort "Generalstreik". "Wir fordern endlich Leitplanken für die Finanzbranche, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine höhere Besteuerung großer Erbschaften, eine Finanztransaktionssteuer und einen höheren Spitzensteuersatz. Geld ist genug da - es ist nur falsch verteilt," meinte Landgraf. Da diese Forderungen ohne reale Druckmittel zwischen 1998 und 2005 nicht gegen "Rot-Grün" durchgesetzt werden konnten, erscheinen sie nun gegenüber "Schwarz-Gelb" um so illusorischer.
Auch aus den Reden der GEW-Chefin und des Ver.di-Mitglieds und Linkspartei-Landesvorstands Bernd Riexinger sowie eines 'attac'-Vertreters waren keine Perspektiven zu erfahren wie denn der weitere Sozialabbau verhindert werden könnte. "30-Stunden-Woche bei vollem Lohn statt Zwangsurlaub und Lohnverzicht" war dagegen auf einem Transparent von Daimler-Beschäftigten zu lesen. "Griechen statt Kriechen" stand auf dem Transparent einer Ver.di-Gruppe aus München. Ob die RednerInnen dies allerdings auf sich bezogen, sei dahingestellt. Um so gereizter reagierte ein großer Teil der DemonstrantInnen als ihnen der baden-württembergische "S"PD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel und die "Grünen"-Landesvorsitzende Silke Krebs als Redner zugemutet werden sollten. Offenbar hatten viele noch nicht vergessen, wer vor wenigen Jahren den Sozialabbau der "Agenda 2010" und der Hartz-Gesetzen verantwortet hatte.
Als Schmiedel das Podium betrat, gab es ein lautstarkes Pfeifkonzert und er wurde mit Eiern und Flaschen beworfen. Nicht - wie die Mainstream-Medien berichteten - von einem "schwarzen Block", von dem niemand von den Anwesenden etwas gesehen hatte. Eier warfen auch Menschen, die als "stinknormale" GewerkschafterInnen bezeichnet werden könnten. Das Werfen von Flaschen allerdings stieß bei der Mehrheit auf Widerspruch. Viele der Anwesenden waren zugleich GegnerInnen des Bahnhof-Projekts "Stuttgart21" und waren entsetzt, daß mit Schmiedel ein Befürworter dieses Milliarden-verschlingenden Prestige-Projekts auf der Kundgebung reden sollte.
Die VeranstalterInnen reagierten überrascht und konfus. Sie ließen es zu, daß die Polizei mit Pfefferspray und Schlagstock-Einsatz wahllos gegen DemonstrantInnen vorging. Viele der Opfer, darunter zahlreiche Gewerkschaftsmitglieder mußten im Sanitätszelt behandelt werden, weil ihre Augen zugeschwollen waren oder weil sie unter Atemnot litten. Die Einsatzkräfte stellten sich in voller Montur auf die Bühne und filmten hunderte von Demo-TeilnehmerInnen, die vor der Bühne protestierten.
Die VeranstalterInnen ließen dies zu und protestierten nicht einmal gegen den Schlagstock-Einsatz. Statt daß Schmiedels unbekümmertes Weiterreden abgebrochen worden wäre, verurteilte eine Moderatorin gar den Protest der Mehrheit und stellte deren Demokratie-Verständnis in Frage. Anhaltender Protest war bei dem ungerührt durchgezogenen Redebeitrag der Pseudo-Grünen Krebs zu vernehmen. Auch die Polizei konnte dies mit ihrem einschüchternden und brutalen Vorgehen nicht verhindern. Als Linkspartei-Landesvorstand Riexinger von einer Frau gefragt wurde, warum Schmiedel überhaupt zu einem Redebeitrag aufgefordert wurde, fiel er ihr erbost ins Wort: "Die Aggression ist überhaupt nicht zu rechtfertigen!" Und dann fiel ein bezeichnender Satz: "Ich bin sehr froh, daß die Linke und die SPD erstmals in Baden-Württemberg zusammen auf die Straße gegangen sind."
Nach der Rede von Silke Krebs sollte eine Rap-Band auftreten. Doch als der Sänger der Band differenziert darauf hinwies, daß nicht allein das Flaschen-werfen als Gewalt angeprangert werden dürfe, sondern auch Ausbeutung, Unterdrückung und das eben zu beobachtende gewaltsame Vorgehen der Polizei, brachen die VeranstalterInnen die Kundgebung ab. Ganz schnell noch wünschten sie allen TeilnehmerInnen "einen schönen Nachhauseweg".
Auch in Berlin verlief die Demonstration nicht wie geplant
Immer wieder mußte der Protestzug wegen rüden Provokationen der Polizei, die sich streckenweise zwischen DemonstrantInnen und parkende Autos drängte, stoppen. Als behelmte Beamte in der Torstraße den "antikapitalistischen Block" provozierten, wurden Flaschen aus deren Reihen geworfen und etliche Knallkörper explodierten. Gegen 14:15 Uhr explodierte am Rand des Demo-Zuges ein Sprengkörper, der nach Polizeiangaben etliche Beamte leicht und zwei Beamte schwer verletzte. Diese mußten in ein Krankenhaus transportiert und operiert werden. Einem der Männer wurde laut Polizeiangaben unter anderem ein Nagel aus dem Bein entfernt.
Woher der Sprengkörper stammte, der nach Augenzeugenberichten lauter als übliche Feuerwerkskörper war, ist bislang ungeklärt. Behauptungen, die von den Mainstream-Medien verbreitet wurden, wonach er aus den Reihen des Demonstrationszuges geworfen worden sei, sind bislang unbewiesen. Auch zwei Video-Aufnahmen die mittlerweile im Internet kursieren, geben hierüber keinen Aufschluß. Der Innensenator der "rot-roten" Berliner Landesregierung, Ehrhart Körting, erklärte bereits heute (Sonntag) voreilig, der Vorfall zeige, daß ein Teil des linken Spektrums nicht vor schwersten Gewalttaten zurückschrecke und die politischen Ziele nur ein Vorwand seien, um Menschen anzugreifen.
Die Linken-Bundesvorsitzende und Demo-Teilnehmerin Gesine Lötzsch kritisierte die Tat: "Wer Menschenleben aufs Spiel setzt, handelt verbrecherisch", sagte sie. Mit dieser Attacke hätten sich die TäterInnen auch gegen die Forderung der Demonstration nach sozialer Gerechtigkeit gewandt. Michael Prütz vom Bündnis "Wir zahlen nicht für eure Krise" distanzierte sich von dem Anschlag: "Das war ein Verrückter". Den Vorwurf, das Bündnis sei mit der Organisation der Demonstration überfordert gewesen, wies er zurück. Der Anschlag paßt ins Bild der in den vergangenen Wochen zu verzeichnenden Kampagne, wonach die Gewalt von linksextremer Seite zunehme. Die statistischen Grundlagen für solche Behauptungen sind jedoch fraglich.
Zunächst entspannte sich am Samstag die Lage, doch kurz vor der Abschlußkundgebung machten Greiftrupps der Polizei Jagd auf angeblich Verdächtige. Als der Protestzug den Alexanderplatz erreichte, war die Mehrheit vom plötzlichen Eingreifen der Polizei überrascht. Laut den VeranstalterInnen wurden mindestens fünf Demo-TeilnehmerInnen dabei verletzt. Die Polizei nahm nach eigenen Angaben sieben Personen fest. Drei darunter werden verdächtigt, den Sprengsatz geworfen zu haben. Alle Verdächtigen wurden jedoch zwischenzeitlich freigelassen. Das Berliner Landeskriminalamt ermittelt wegen versuchten Totschlags.
Auf der Kundgebung bezeichnete Gerd Buddin von Ver.di Berlin die Pläne der Regierung als "Sauerei". Allerdings kündigte auch er nur abstrakt einen "Widerstand" der Gewerkschaften an, ohne das Wort "Generalstreik" in den Mund zu nehmen. Auch die Vorsitzende der Linkspartei Gesine Lötzsch sagte in ihrem Redebeitrag auf der Kundgebung nichts Neues, als sie an das Tempo erinnerte, mit dem "Schwarz-Gelb" 500 Milliarden Euro zur Rettung der Banken bereit gestellt hatte, und als sie den Anwesenden bescheinigte, nicht über ihre Verhältnisse gelebt zu haben - wie dies Bundeskanzlerin Angela Merkel immer wieder von allen Deutschen behauptet.
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Ausgepreßt
Sozialabbau schwarz-gelb (7.06.10)
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