GegnerInnen der für Mai kommenden Jahres angekündigten Volkszählung in Deutschland haben heute beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingelegt. Dabei wurde auch eine Liste mit 13.000 UnterstützerInnen übergeben. Die GegnerInnen werten das der Volkszählung zugrunde liegende Zensus-Gesetz als verfassungswidrig. Die Volkszählung 2011 soll je nach Schätzung zwischen 450 und 700 Millionen Euro kosten.
Die GegnerInnen der Volkszählung 2011 wollen an das große Vorbild des Volkszählungs-Boykotts von 1987 anknüpfen. Einen beachtlichen Schub für die Bewegung brachte die Demo "Freiheit statt Angst" mit 20.000 TeilnehmerInnen im September vergangenen Jahres in Berlin, auf der ein großer Anteil junger Menschen auffiel. Diese erteilten einer Generation, die den Volkszählungsboykott von 1987 als "antiquiert" und Ausdruck einer damals herrschenden "Hysterie" beiseite schieben wollte, eine Absage. Deutlich wird hierbei, daß die Tradition eines staatskritischen Verständnisses von Datenschutz, die von einer Partei wie den "Grünen" aufgegeben wurde, wiederbelebt werden konnte. Die "grüne" Vorsitzende Claudia Roth hat allerdings bereits die Zeichen der Zeit erkannt und stellt sich - verbal - auf die Seite der VolkszählungsgegnerInnen: "Das Zensusgesetz genügt noch längst nicht den strengen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zur Vorratsdatenspeicherung."
Seit 1987 unterließ der deutsche Staat einen weiteren Anlauf zu einem "großen Zensus". Insbesondere ist dieser Zeitraum von 24 Jahren im internationalen Vergleich beachtlich. Es gibt laut UN-Statistik nur wenige Länder, die ähnlich lange wie Deutschland keine Volkszählung mehr organisiert haben: der Kongo zum Beispiel, Eritrea oder auch Myanmar.
"Ein großes Problem stellt der Datenschutz und dabei insbesondere die Datensicherheit dar", kritisiert die Bremer Rechtsanwältin Eva Dworschak, die die Beschwerdeschrift erstellt hat. Die Erfassung der persönlichen Daten ist ihrer Ansicht nach verfassungswidrig. Doch sollte das Bundesverfassungsgericht die Klage abweisen, wird es schwierig. Denn die Volkszählung 2011 soll - anders als im Jahr 1987 - nicht alle Haushalte erfassen. Nur rund 7,2 Millionen BürgerInnen sollen diesmal direkt befragt werden. Dazu erhalten rund 17,5 Millionen BesitzerInnen von Immobilien einen Fragebogen. Bei einer Verweigerung der Antwort drohen Bußgelder von bis zu 5000 Euro. Die so erhobenen Daten sollen durch statistische Verfahren ergänzt werden. Dies macht einen breit angelegten Boykott wesentlich schwerer. Zudem sind bislang prominente UnterstützerInnen - wie etwa im Jahr 1987 der durch seine Wissenschaftssendung im TV bekannte Hoimar von Ditfurth - nicht in Sicht.
Auch heute wird von PolitikerInnen von "Schwarz-Rot-Grün-Gelb" behauptet, die Daten aus einer Volkszählung seien eine wichtige Grundlage für ihre Arbeit. Sie verweisen darauf, daß die Bevölkerungszahl eine bestimmende Größe beim Länderfinanzausgleich sei. Die Daten über Wohnformen, über Wohnorte und über die Arbeitssituation der Bevölkerung seien unerläßliche Grundlage, um die Infrastruktur des Landes zu planen. WissenschaftlerInnen und StatistikerInnen benötigten die Daten als Basis für Studienprojekte und weiterführende, detailliertere Statistiken.
Hier jedoch sehen die DatenschützerInnen das Problem. Das der Volkszählung 2011 zugrundeliegende Zensusgesetz verletzt aus ihrer Sicht das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Vor allem mit drei Punkten aus dem Gesetz sind die DatenschützerInnen nicht einverstanden. Die Kritik betrifft vor allem drei Punkte:
1. Viele der Daten sollen aus bestehenden Datensätzen öffentlicher Behördern wie den Melde- oder Arbeitsämtern übernommen werden. Damit wird - zumindest vorübergehend - ein zentraler Datenpool geschaffen.
2. Weit über die als politischer Blitzableiter dienende EU-Vorlage hinaus, die als Verpflichtung zur Volkszählung vorgeschoben wird, sollen Angaben zur Religion (freiwillig) und zum Migrationshintergrund erfaßt werden. Im Zensusgesetz heißt es hierzu, damit solle die Integration von ZuwanderInnen verbessert werden.
3. Die sensiblen Daten sind laut BürgerrechtlerInnen nicht anonymisiert, da sie durch sogenannte Ordnungsnummern den einzelnen BürgerInnen zugeordnet werden können. Vier Jahre lang sollen die Erhebungsdaten gespeichert bleiben. HackerInnen oder auch bestochene BeamtInnen können Zugriff auf die gespeicherten "Personenprofile" nehmen, diese mißbrauchen oder weiterverkaufen. "Die Zuordnung der persönlichen Daten durch eine Ordnungsnummer hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil ausdrücklich verboten", kritisieren die GegnerInnen.
Thomas Riede vom Statistischen Bundesamt weist die Kritik zurück. Die Ordnungsnummern, mit denen die Daten einzelnen Bürgern zuzuordnen sind, würden sein Amt nicht mehr verlassen - somit sei die Datensicherheit kein Problem. Doch mit demselben Argument wurde auch die zentrale Datenerfassung durch ELENA als unbedenklich dargestellt.
Auch ein Sprecher des Bundesinnenministeriums verteidigt das Zensusgesetz. Die Bundesregierung sei überzeugt, ein "sehr gutes Gesetz" erarbeitet zu haben. Außerdem habe sich der Bund eng mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz beraten. Im Gegensatz zur Volkszählung 1987 sei die im nächsten Jahr stattfindende Befragung "sehr bürgerfreundlich".
Der Datenschutz und insbesondere die Datensicherheit stelle ein großes Problem dar. "So sind die Daten der Volkszählung 2011 in den ersten vier Jahren über eine eindeutige Personenkennziffer zuzuordnen", erklärt hingegen Eva Dworschak. Zusätzlich seien bei einem möglichen Angriff sämtliche - auch persönliche - Daten dem Zugriff ausgesetzt.
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
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