12.01.2012

Hartz IV
Kafkaeske Situation beim Sozialgericht

blinde Justizia Im vergangenen Jahr gingen beim größten deutschen Sozialgericht 43.832 Klagen ein. Der Berg der unerledigten Verfahren ist mittlerweile mangels personeller Ausstattung auf 40.000 angewachsen. In mehr als jedem zweiten Fall bekommen die KlägerInnen recht.

Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma erklärte bei der gestrigen Jahrespressekonferenz, das Berliner Sozialgericht müsste "ein Jahr schließen, um diesen Berg abarbeiten zu können." Dennoch würde auch in diesem Zeitraum erneut über 40.000 Verfahren hinzukommen. Über 70 Prozent der beim Sozialgericht eingehenden Klagen betreffen Hartz-IV-Fälle. "Unzählige Änderungsgesetze und die große Hartz-IV-Reform vom Januar vergangenen Jahres haben nichts geändert: Die Hartz-IV-Klageflut trifft uns weiterhin mit voller Wucht," so Schudoma. Auch 2011 erreichten die Klagen das Berliner Sozialgericht im Zwölf-Minuten-Takt.

Im Jahr der Einführung von Hartz IV durch die neoliberale "rot-grüne" Bundesregierung zum 1. Januar 2005 erreichten das Berliner Sozialgericht 6.950 Einwände - dies nach Durchlauf der zunächst zwingend erforderlichen Widerspruchs-Verfahren bei den zuständigen Ämtern. Bis 2008 steigerte sich die Zahl auf 21.510 Fälle. Der Höchststand von 2010 mit 31.776 Verfahren wurde im vergangenen Jahr mit 30.735 (bei insgesamt 43.832 Klagen) jedoch nicht erreicht. Schudoma erläutert, daß dies zwar ein leichter Rückgang sei, aber noch keine Trendwende einläute. Die Situation bleibe für das Sozialgericht schwierig. Und sie bleibt erst recht schwierig für jene, die von den vielen rechtswidrigen Bescheiden betroffen sind: Sie müssen - oft für lange Zeit - mit weniger auskommen als offiziell als absolutes Minimum festgelegt wurde.

Noch für Januar rechnet Gerichtspräsidentin Schudoma damit, daß die 150-Tausendste Hartz-IV-Klage seit Inkrafttreten der sogenannten Reform vor sieben Jahren eingehen werde. Im Vergleich zum Jahr 2005 habe das Sozialgericht seine RichterInnen-Stellen mehr als verdoppelt: von 55 auf 127 Stellen. 72 davon beschäftigten sich nach Schudomas Angaben "ausschließlich mit Hartz IV". Doch der Berg an unbearbeiteten Klagen, den die RichterInnen vor sich herschieben, wuchs auf mittlerweile 40.000.

Schudoma ist der Ansicht, daß dennoch nicht von einer Klagewut die Rede sein könne. Immerhin hatten sich 54 Prozent der beim Sozialgericht eingehenden Klagen bezüglich Hartz-IV-Bescheiden zumindest teilweise als berechtigt erwiesen. Die Erfolgsquote der Kläger sei in anderen Bundesländern nur ein gutes Drittel. Auch die Bearbeitungszeit der Verfahren sei in Berlin geringer. Schudoma berichtet von durchschnittlich knapp zehn Monaten, was bundesweit dem Spitzenplatz bei der Verfahrensdauer entspreche. Und wenn es "um das Abwenden einer akuten Notlage" gehe, würden entsprechenden Eilverfahren innerhalb eines Monats erlegt, so die Berliner Gerichtspräsidentin.

Da die "Jobcenter" in Berlin immer noch mit einer Tabelle zur Berechnung der Wohnkosten agieren müssen, die bereits im Oktober 2010 vom Bundessozialgericht als rechtswidrig eingestuft wurde, betreffe der Großteil der Klagen von Hart-IV-Betroffenen die Kosten der Wohnung, berichtet Schudoma. Die Gerichtspräsidentin setzt große Hoffnung in den neugewählten Berliner Senat. Dieser müsse "nun transparente, sozial ausgewogene und praxistaugliche Mietgrenzwerte" erstellen. Ein entsprechender Vorschlag des Berliner Sozialgerichts wurde bereits eingereicht, so Schudoma.

Ansonsten geht es bei Hartz-IV-Klagen meist um Leistungskürzungen wegen Sanktionen oder um die Frage, wie ein Einkommen auf die Hartz-IV-Zahlungen anzurechnen ist. Es seien, sagt Schudoma, seit Jahren dieselben Probleme. Doch nichts ändere sich. "Verbesserungsvorschläge aus der Praxis versanden in der Politik," kritisiert die Gerichtspräsidentin.

Viele der Klagen von Hartz IV-Betroffenen beruhen ersichtlich auf der Nichteinhaltung gesetzlich festgelegter Bearbeitungsfristen. Denn auch in den "Jobcentern" kommen die MitarbeiterInnen wegen des offenbar gewollten Personalsmangels nicht mit der Arbeit hinterher. "Wir bekommen von den Jobcentern leider allzu oft die Antwort: »Aufgrund von Personalmangel kommt es derzeit zu Verzögerungen«," so die Gerichtspräsidentin. Als Folge davon wenden sich betroffene BürgerInnen vertreten durch ihre RechtsanwältInnen direkt an die Gerichte. Monat für Monat erreichten das Gericht deshalb Dutzende Untätigkeitsklagen, weil die "Jobcenter" zwingende Bearbeitungsfristen nicht beachten. "Statt Rechtsfragen zu lösen, wird das Gericht zum Mahnbüro. Die Überforderung der Jobcenter führt zur Überlastung der Gerichte. Und die Zeche zahlt der Steuerbürger. Das ärgert mich," erklärt Schudoma. Doch auf diese Weise kann der Druck auf die Hartz IV-Betroffenen erhöht und die Arbeitslosigkeits-Statistik geschönt werden. Die Amtsleiter von "Jobcentern" und "ArGen" wollen die Personalengpässe in den eigenen Behörden in der Regel nicht sehen und geben den Druck von oben nach unten willig weiter.

Daß dieser Druck gewollt ist, zeigt sich zudem darin, daß rechtswidrige Bescheide oft auch noch dann weiter ausgestellt werden, wenn ein Gericht längst die Rechtswidrigkeit in der entsprechenden Rechtsfrage festgestellt hat. Eigentlich müßten die "Jobcenter" die Gerichte entlasten. Als Beispiel führt die Präsidentin des Berliner Sozialgerichts die Widerspruchsverfahren an, bei denen den Betroffenen die Möglichkeit gegeben werde, direkt beim "Jobcenter" die eigene Ansicht vorzutragen. Widerspruchsverfahren gehen einem Gerichtsverfahren zwingend voraus. Schudoma berichtet jedoch, daß diese Verfahren häufig nur pro forma, ohne eine Klärung abliefen: "Viele Klagen wären vermeidbar, wenn Betroffene und Behörden bereits während des Widerspruchverfahrens ein klärendes Gespräch führen würden. Doch viel zu oft sitzt man erst im Gerichtssaal an einem Tisch."

Doch was geschieht, wenn die Parteien-Politik es weiterhin für opportun erachtet, den nicht nur für die Hartz-IV-Betroffenen inhumanen Druck aufrechtzuerhalten? Die Berliner Gerichtspräsidentin wird ihren Auftrag in dieser kafkaesken Situation auch dann erfüllen: "Wir arbeiten weiter. Mehr kann ich nicht sagen."

 

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      OECD-Bericht
      Kluft zwischen Arm und Reich wächst (5.12.11)

      Reallöhne in Deutschland sinken weiter
      Zuwächse von Inflation ausgefressen (5.11.11)

      Renten: Minus auch in 2012
      Inflation offiziell bei 2,5 Prozent (28.10.11)

      Schuldenkrise in den USA
      Kampf zwischen Elefant und Esel? (15.07.11)

      Trotz Lohnerhöhungen:
      Inflation bewirkt Minus (6.07.11)

      Sozialabbau -
      Renten seit 2001 real gekürzt (5.07.11)

      Sozialabbau: Bufdis
      bekommen weniger als Zivis (30.06.11)

      Bundestagsabgeordnete wollen
      mehr Diäten (27.06.11)

      Starke Zunahme von "400-Euro-Jobs"
      von "Rot-Grün" verursacht (27.04.11)

      Frauen in Konzern-Vorstände?
      Die realen Probleme bleiben ausgeblendet (8.03.11)

      Verfassungsgericht:
      Einführung von Hartz-IV war grundgesetzkonform (29.12.10)

      Discounter Lidl für 10 Euro Mindestlohn
      Einzelhandel fürchtet Ost-Konkurrenz (21.12.10)

      Mißbrauch von Ein-Euro-Jobs?
      Der Zweck ist Lohndumping (15.11.10)

      Real über 9 Millionen Arbeitslose
      Die Tricks der Bundesregierung (28.10.10)

      Von der Leyens Hartz-IV-Reform:
      Nominal 5 Euro Plus ab 2011 - real ein Minus (26.09.10)

      50 Milliarden Euro
      für Subventionierung des Niedriglohn-Sektors (13.08.10)

      Von der Leyens Hartz-IV-Reform
      Erneuter Sozialabbau trotz Urteil des Bundesverfassungsgerichts?
      (2.08.10)

      Pisa 2010 und die Schere
      zwischen Arm und Reich (23.06.10)

      Ausgepreßt
      Sozialabbau schwarz-gelb (7.06.10)

      Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig
      Herbe Niederlage für "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" (9.02.10)

      Rente wird gekürzt
      "Nullrunde" heißt Minus (16.03.10)

      DIW-Studie zum Vermögen in Deutschland
      Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter (19.01.10)

      Bilanz von fünf Jahren Hartz IV
      Repression als "Arbeitsmarkt-Reform"
      Niederiglohn-Sektor massiv ausgeweitet (19.12.09)

 

neuronales Netzwerk