Rund ein Dutzend Botschaften... bereits im März 2000
Nach neuen Informationen haben bereits im März 2000 rund ein Dutzend Botschaften gegen die Ende 1999 von Außenminister Joseph Fischer initiierte Visa-Praxis protestiert. So schrieb beispielsweise der deutsche Botschafter in Moskau am 28. März 2000 nach Berlin: "Die Botschaft bedauert, daß bei der Neufassung des Runderlasses die praktische Erfahrung der Vertretungen kaum berücksichtigt wurden." In der Diplomaten-Sprache bedeuten die verwendeten Formulierungen nahezu offene Rebellion. Knapp einen Monat später schrieb die Vertretung, das Botschaftspersonal könne den Ansturm der Visa-Antragsteller auf Dauer nicht durchhalten.
Ähnliche Schreiben aus der Botschaft in Kiew und einer Reihe weiterer Botschaften wurden inzwischen publik. Insbesondere die Botschaften in Osteuropa warnten davor, daß ihre Visa-Stellen "verschleierte Absichten" nicht mehr ausreichend erkennen könnten. Der 'spiegel' berichtet zudem über Schreiben aus der Führungsebene des Auswärtigen Amtes zu den Protesten gegen die Visa-Praxis. So schrieb der Leiter Visa-Referats in einer eMail: "Die Botschaft in Moskau entwickelt sich zu einem >Hort des Widerstands< gegen die Neuordnung der Visumpraxis, leider mit Methoden à la Schily."
Wie bereits am 8.03. bekannt wurde, kritisierte Innenminister Schily zwar regierungsintern die illegale Visa-Praxis, einigte sich aber im März 2000 mit Joseph Fischer darauf, das Thema "nicht zum Gegenstand von Grundsatzauseinandersetzungen werden zu lassen." Fälschlich wird nun allerdings in einigen Mainstream-Medien heute behauptet, dieser Deal zielte darauf, den "Konflikt" nicht im Kabinett zu besprechen. Tatsächlich liegen bereits seit dem 22.02. Protokoll-Notizen von Kabinetts-Sitzungen vor, aus denen hervorgeht, daß auch Bundeskanzler Gerhard Schröder bereits im März 2000 informiert war.
Aktuell wurde nun publik, daß Innenminister Otto Schily seit Ende 1999 nicht nur über die Zustände orientiert war, sondern zudem von hochrangigen Mitarbeitern im Innenministerium massiv vor den Auswirkungen der neuen Visa-Erlasse gewarnt wurde: "Die Weisung ist nicht hinnehmbar", heißt es in einer internen Vorlage für den Innenminister vom 9. März 2000.
Und Außenminister Joseph Fischer, der noch im Februar vorgab, sich erst mit Hilfe von "Aktenstudium" mit der Visa-Themtik vertraut machen zu müssen, hatte laut 'spiegel' bereits im November 1999 eine "Hausbesprechung" über die Visa-Praxis anberaumt und sich über die Entwicklung unterrichten lassen.
Der "rote" NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück drängt seit gestern wie bereits andere hohe NRW-Partei-Funktionäre darauf, Joseph Fischer solle noch vor der Landtagswahl am 22. Mai vor dem Visa-Untersuchungsausschuß des Bundestages aussagen. Immer deutlicher zeichnet sich ab, daß in Folge der vor sich hin schwelenden Visa-Affäre die Chancen für den Fortbestand der "rot-grünen" Koalition in NRW gegen Null tendieren.
Adriana Ascoli
Anmerkungen
Siehe auch unsere bisherigen Artikel zur Visa-Affäre
'Visa-Affäre: Argumentation "mit der Brechstange"'
Erler tritt Roth vors Schienbein (13.03.05)
'Visa-Affäre: Schweige-Deal zwischen Fischer und Schily' (8.03.05)
'Visa-Affäre: Maulkorb für kritische Botschafter' (5.03.05)
'Toter in Visa-Affäre?'
Staatsanwalt in vorauseilendem Gehorsam: "Kein Zusammenhang"
(3.03.05)
'Fischers Büttenrede in Köln'
Applaus wie vereinbart (26.02.05)
'Warum die orthodoxe Linke zur Visa-Affäre schweigt'
Die wirtschaftlichen Hintergründe der Visa-Affäre
(25.02.05)
'NRW-"Rote" seilen sich von Fischer ab'
Das Krisenmanagement in der Visa-Affäre sei katastrophal
(25.02.05)
'Joseph Fischer nun doch erst später vor Visa-Ausschuß'
Visa-Mißbrauch bereits im März 2000 Thema im Kabinett
(24.02.05)
'Joseph Fischer nun doch bald vor den Visa-Ausschuß'
(22.02.05)
'Koch in Visa-Affäre verstrickt'
(19.02.05)
'Sensation im Visa-Ausschuß'
Fischers Praktiken waren illegal
(17.02.05)
'Fischers Visa-Affäre spitzt sich zu'
Brief vom Außenminister höchstselbst vom April 2000
(16.02.05)
'Joseph Fischers final flight?'
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