Laut offizielle Statistik der Deutschen Rentenversicherung mußten 336.856 der rund 700.000 Menschen, die im Jahr 2011 in Rente gingen, Abschläge in Kauf nehmen, weil sie nicht das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahren erreicht hatten. Dies sind 48 Prozent. In manchen Berufsgruppen liegt diese Quote sogar bei über 70 Prozent.
Wer genügend lange in die Rentenversicherung eingezahlt hat, darf frühestens mit 63 Jahren in Rente gehen - muß dann jedoch eine Verminderung der Rente ("Abschlag") von 7,2 Prozent in Kauf nehmen. Im Durchschnitt entsprachen jene 7,2 Prozent 109 Euro im Monat. Überdurchschnittlich stark betroffen von dieser wenig bekannten Rentenkürzung sind gerade Menschen aus Berufsgruppen mit besonders hohen Belastungen. In fünf von 39 von der Rentenversicherung aufgeführten Berufsgruppen liegt die Quote bei über 70 Prozent, in 23 der Berufsgruppen liegt sie bei über 60 Prozent. Besonders betroffen sind ChemiearbeiterInnen, Krankenschwestern und Krankenpfleger.
Der Anteil derer, die nicht die volle Rente erhalten, stieg von 41,2 Prozent im Jahr 2005 auf 48,2 Prozent im Jahr 2011. Zudem wurde seit Jahren selbst der volle Rentensatz von Jahr zu Jahr real gekürzt (siehe unsere Artikel vom 16.10.12 und vom 13.03.12). Das Bild vervollständigen folgende Zahlen, die von der Bundesagentur für Arbeit kürzlich veröffentlicht wurden: Die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen liegt bei knapp unter 30 Prozent. Und unter den 64-Jährigen gehen nur noch 14,2 Prozent einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach.
Wird das Renteneintrittsalter wie gesetzlich vorgegeben in den kommenden Jahren auf 67 erhöht, hat dies zur Folge, daß immer mehr Menschen die Rente zu immer größeren Teilen gekürzt wird. Gerade diejenigen, die in stark belastenden Berufen arbeiten, werden durch die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters besonders stark geschröpft.
Nun hob die Bundesagentur für Arbeit in der vergangenen Woche hervor, die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen sei gestiegen. Allerdings gibt es große Unterschiede unter den Renten-EmpfängerInnen. Während viele mit ihrer Rente unter die Armutsgrenze absinken, gibt es andere, die Dank Vermögen, ererbtem Wohneigentum oder anderen Einkünften gar keine Rente nötig haben. So ergibt die Statistik etwa, daß rund 60 Prozent der Rentenberechtigten, die noch arbeiten - also wohlgemerkt rund 60 Prozent etwa jener 14,2 Prozent der 64-Jährigen - auch ohne Arbeitslohn genügend zum Leben haben und diese Arbeit "just for fun" leisten. Daraus nun aber ein Argument für die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre zu konstruieren, wäre zynisch.
Häufig wird das Bild vermittelt, einer großen Zahl von RentnerInnen gehe es heute viel besser als noch vor 10 oder 20 Jahren. Tatsächlich hat sich auch unter den RentnerInnen die Schere zwischen oben und unten geöffnet. Doch der Mehrheit geht es nicht etwa besser, sondern schlechter. So sind die Renten trotz nominaler Erhöhungen infolge der Inflation - also real - von Jahr zu Jahr gesunken. In den neuen Bundesländern sank sogar der nominale Auszahlungsbetrag für Männer beim Renteneintritt: Aus den Zahlen der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland geht hervor, daß die durchschnittliche Rente bei männlichen Neu-Rentnern in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen im Jahr 2002 noch bei durchschnittlich 953,11 Euro pro Monat lag, aber im Jahr 2011 auf durchschnittlich 863,21 Euro abgesunken ist. Die staatlichen Renten ostdeutscher Frauen sind dagegen bei Rentenbeginn leicht gestiegen, liegen aber etwa in Thüringen bei durchschnittlich 665,28 Euro.
Auch ist das Argument nachweislich falsch, es würden mehr der Über-60-Jährigen von der Wirtschaft als Arbeitskräfte nachgefragt: Die Arbeitslosen-Quote der 60- bis 64jährigen ist gestiegen. Sie war im Dezember 2012 mit 8,3 Prozent höher als der Durchschnitt aller 15- bis 65järigen, der bei 6,7 Prozent lag.
Nach wie vor wird auch die Lüge schamlos weiterverbreitet, wegen des "demografischen Wandels" werde die Finanzierung des Rentensystems immer schwieriger. Wegen der "Überalterung" der Gesellschft, sprich der prozentualen Zunahme der Über-60-Jährigen an der Gesamtgesellschaft, sei es zwingend, daß die Renten auf die Dauer sinken. Fakt ist tatsächlich, daß einer wachsenden Zahl von RentenempfängerInnen eine geringere Zahl von BeitragszahlerInnen gegenübersteht. Fakt ist jedoch auch, daß die Produktivität in Deutschland weitaus stärker gestiegen als die Zahl der Über-60-Jährigen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren noch rund 20 Prozent der Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt. Ein Bauer ernährte vier Menschen. Gut hundert Jahre später arbeiten nur noch wenig mehr als ein Prozent der Deutschen in der Landwirtschaft. Ein Arbeitsplatz in der Landwirtschaft ernährt heute rund 80 Menschen. Dort, wo 1990 noch 100 Menschen in der Autoproduktion beschäftigt waren, sind zehn Jahre später nur noch 56 Menschen für den selben Output an Autos nötig. Die Produktivität pro ArbeitnehmerIn wuchs in der Dekade von 1990 bis 2000 um 73,7 Prozent. Es wird also mehr als genug erwirtschaftet, um ohne Probleme die rund 17 Millionen (Alters-)RentnerInnen ausreichend versorgen zu können. Bei der Absenkung der Renten und den verdeckten Rentenkürzungen handelt es sich also ganz offensichtlich nicht um ein Altersproblem, sondern um ein Verteilungsproblem.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Deutsches Rentensystem im internationalen Vergleich
Blamables Ergebnis (16.10.12)
Massenproteste in Spanien
gegen Sozialabbau und Banken-Rettung (20.07.12)
IG Metall Pilot-Tarifabschluß
Eis in der Sonne (20.05.12)
Erneut Rentenkürzung
Inflation bei über 2,5 Prozent (13.03.12)
Sozialabbau trifft Frauen härter
Was gibt's Neues zum Internationalen Frauentag? (8.03.12)
Was macht den Menschen gierig?
"Denn wo dein Schatz ist..." (27.02.12)
Studie zu "Babyboom"-Jahrgängen
Besonders Frauen erwartet Altersarmut (15.02.12)
Hartz IV
Kafkaeske Situation beim Sozialgericht (12.01.12)
OECD-Bericht
Kluft zwischen Arm und Reich wächst (5.12.11)
Reallöhne in Deutschland sinken weiter
Zuwächse von Inflation ausgefressen (5.11.11)
Renten: Minus auch in 2012
Inflation offiziell bei 2,5 Prozent (28.10.11)
Trotz Lohnerhöhungen:
Inflation bewirkt Minus (6.07.11)
Sozialabbau -
Renten seit 2001 real gekürzt (5.07.11)
Sozialabbau: Bufdis
bekommen weniger als Zivis (30.06.11)
Bundestagsabgeordnete wollen
mehr Diäten (27.06.11)
Starke Zunahme von "400-Euro-Jobs"
von "Rot-Grün" verursacht (27.04.11)
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Von der Leyens Hartz-IV-Reform:
Nominal 5 Euro Plus ab 2011 - real ein Minus (26.09.10)
50 Milliarden Euro
für Subventionierung des Niedriglohn-Sektors (13.08.10)
Von der Leyens Hartz-IV-Reform
Erneuter Sozialabbau trotz Urteil des Bundesverfassungsgerichts?
(2.08.10)
Pisa 2010 und die Schere
zwischen Arm und Reich (23.06.10)
Ausgepreßt
Sozialabbau schwarz-gelb (7.06.10)
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"Nullrunde" heißt Minus (16.03.10)
DIW-Studie zum Vermögen in Deutschland
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mit 2 Prozent Minus im Jahr 2008 (17.03.08)
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Erhöhung ist Absenkung (3.12.07)
Sozialabbau und Rentenklau
Zur aktuellen Diskussion um die Rente mit 67 (15.10.07)