Laut den heute vorgelegten Zahlen der Deutschen Kinderhilfe ist Gewalt gegen Kinder in der BRD immer noch weit verbreitet. Von 2015 auf 2016 stieg die Zahl der Todesopfer unter 14 Jahren um 2,3 Prozent auf 133.
ForscherInnen der Universität Ulm hatten im vergangenen März eine Untersuchung vorgelegt, wonach rund 31 Prozent der BundesbürgerInnen in ihrer eigenen Kindheit körperliche oder emotionale Gewalt erfahren haben - rund 14 Prozent waren demnach Opfer sexueller Übergriffe.
In der Nachkriegszeit waren Schläge in der "Kindererziehung" oft noch die Regel. Seitdem wächst die Zahl derer, die körperliche Strafen - zumindest verbal - ablehnen. Für die Mehrheit sind ein "Klaps auf den Po" oder eine Ohrfeige mittlerweile tabu, meint der Ulmer Experte für Kindeswohlgefährdung Jörg M. Fegert. In dessen Studien aus dem Jahr 2016 bewerteten 44,6 Prozent der befragten Erwachsenen einen "Klaps auf den Po" als akzeptabel (2005: 76,2 Prozent); eine leichte Ohrfeige bewerteten 17 Prozent als in Ordnung (2005: 53,7 Prozent). Eine Tracht Prügel mit Blutergüssen oder das Schlagen mit einem Stock sahen im vergangenen Jahr nur noch 0,1 beziehungsweise 0,4 Prozent als vertretbar an (2005: jeweils 1,9 Prozent).
Ob es je nach Zugehörigkeit zu sozialen Schichten Unterschiede bei der Gewalt gegen Kinder gibt, ist unter WissenschaftlerInnen umstritten. Eine Studie der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung kam im Jahr 2013 zu dem Ergebnis, daß Heranwachsende aus armen Familien am stärksten von körperlicher Gewalt betroffen seien. Sozial besser und durchschnittlich gestellte Kinder erfuhren demnach deutlich seltener Gewalt. Nicht berücksichtigt wurde bei dieser Studie emotionale Gewalt, sogenannter "Liebesentzug" und manipulative Formen der Kinderpsychologie.
In Hinblick auf körperliche Gewalt widerspricht Kathinka Beckmann, Professorin für Pädagogik an der Hochschule Koblenz, der Bepanthen-Studie. Gewalt gegen Kinder gebe es entgegen der gängigen Vorurteile in Familien, die Hartz IV beziehen, genauso wie in Familien von AkademikerInnen. "Wir haben Schläge, wir haben sexuelle Gewalt, wir haben Demütigung, wir haben Einsperren, und wir haben auch so etwas wie Kinder über Nacht in der Badewanne sitzen lassen, weil sie eine Vier in Mathe haben," erläutert Beckmann. Rund ein Viertel der Todesfälle unter Kindern stehen in Zusammenhang mit Trennungen und Streit ums Sorgerecht. Als wirksamste Gegenmaßnahme nennt Beckmann eine breit aufgestellte Kinderhilfe.
Auch Rainer Becker, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, weist auf den häufigen Zusammenhang zwischen Trennung der Eltern, Streit um die Kinder und "häuslicher Gewalt" hin. Gewalt gegen Kinder ist zum größten Teil ein Problem der Familien und des "häuslichen Umfelds". Daß Väter, Mütter, Onkel und Tanten sowie Freunde der Familie die häufigsten TäterInnen in Fällen von Gewalt gegen Kinder stellen, belegen viele Untersuchungen.
Julia Weiler, Psychologin und Expertin für Cyber Crime und sexuelle Gewalt, sagt: "Ein Kind muß im Schnitt acht Erwachsene ansprechen, bevor ihm geglaubt wird." Ein Grund sei die noch immer vorherrschende Tabuisierung. Daß jemand aus dem eigenen Umfeld Täter oder Täterin sein könnte, sei eine schwer zu ertragende Vorstellung. Deshalb wird in Fällen von Gewalt gegen Kinder häufig weggesehen, verdrängt und somit ist die Dunkelziffer der nichterkannten Fälle sehr groß. Das Internet spielt nach Meinung von Julia Weiler eine immer größere Rolle und Gewalt gegen Kinder sei durch die "sozialen Netzwerke" wie Facebook, Twitter u.s.w. "fundmental verändert" worden. Zudem seien Kinder und Jugendliche über das Smartphone für Gewalttäter immer erreichbar.
Laut einer Untersuchung der Universität Ulm aus dem Jahr 2016 haben in Deutschland rund eine Million Kinder in Deutschland Erfahrungen mit Gewalt machen müssen. Menschen, die Mißbrauch oder Vernachlässigung erlitten, haben ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen sowie ein höheres Suizidrisiko. Deutlich häufiger als Menschen ohne Gewalterfahrungen leiden sie an Übergewicht, Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronischen Schmerzen, sagte Markus Huber-Lang, Chirurg am Zentrum für Traumaforschung der Uni Ulm im März 2017.
Anmerkungen
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