28.01.2008

Kommentar

Zwei Wahlsiege
Hessen und Niedersachsen

NichtwählerInnen legen zu

Bei der gestrigen Landtagswahl in Niedersachsen sank die Wahlbeteiligung gegenüber der Wahl 2003 um zehn Prozent. Ein beachtliches Signal für einen Aufbruch in Richtung auf wirkliche Demokratie. Und selbst in Hessen, wo alle Register für einen "spannenden" Wahlkampf gezogen wurden, sank die Wahlbeteiligung.

Mit der Wahl in Hessen ist nun einmal mehr das unsinnige Argument widerlegt, mit einem Wahlboykott werde "die Rechte gestärkt". Der Einbruch des amtierenden hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch um nahezu sechs Prozent ist beachtlich. Im übrigen ist nicht alles, was als links bei Wahlen antritt, auch wirklich links. Jedenfalls ist die Distanz politisch bewußter NichtwählerInnen zu dem, was unter roten Flaggen zur Wahl antritt, nahezu gleich groß wie die zu den "schwarzen", "gelben" oder "grünen" Neoliberalen.

Roland Koch hat sich die Wahlniederlage allerdings zu großen Teilen selbst zuzuschreiben. Eine realistische Analyse zeigt, daß er - leider - nicht etwa allein wegen seines skrupellosen Wahlkampfs mit der Hetze gegen ausländische Jugendliche Stimmen verlor, sondern erst ab dem Zeitpunkt als aufflog, daß er an den eigenen Maßstäben gemessen - der Zeit zwischen Straftat und Gerichtsverhandlung, Bildungspolitik - schlechter noch als vergleichbare schwarze Ministerpräsidenten regiert hatte und daß er die Probleme, die er und zunächst auch die Mainstream-Medien hochpushten, selbst verursacht hatte.

Um einen "spannenden Wahkampf" zu inszenieren, hatte die SPD in Hessen ein riskantes Spiel getrieben: Wie schon so oft zuvor, hatte die SPD-Führung in einer als aussichtslos eingeschätzten Ausgangsposition eine als links geltende und - auch heute noch Manko! - weibliche Politikerin gegen Koch ins Rennen geschickt. Zudem versuchte die hessische SPD-Kandidatin Andrea Ypsilanti zusammen mit dem in den "rot-grünen" Jahren von 1998 bis 2005 unter Bundeskanzler Schröder kaltgestellten Kämpfer für die Solarenergie, Hermann Scheer, das rot-grüne Projekt auf glaubwürdige Weise zu recyclen. Es hätte nicht viel gefehlt und für die SPD wäre es zum Schwur gekommen - so kann sich Ypsilanti nun in die große Koalition flüchten. Dort wird es ihr nicht schwerfallen, es auf die "Schwarzen" - ohne Roland Koch - zu schieben, wenn von ihren beachtlichen Wahlversprechen keines realisiert wird.

Und was hatte die "rote" Ypsilanti nicht alles versprochen! Nebenbei bemerkt: Von Schröders Agenda 2010 hatte sie sich - im Gegensatz zu dem in der Öffentlichkeit von ihr gezeichneten Bild - keineswegs distanziert. Allerdings versprach sie, die von Roland Koch eingeführte Studiengebühr von 500 Euro pro Semester zu kippen. Die Energieversorgung sollte - wenn auch recht gemächlich - auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Das mißglückte Experiment Kochs, die gymnasiale Oberstufe von 3 auf 2 Jahre zu verkürzen, sollte rückgängig gemacht werden. Und neue Lehrer sollten eingestellt werden, damit bei Ausfällen tatsächlich Vollunterricht garantiert werden kann. Und auch die katastrophale Verkehrpolitik - insbesondere das Flugaufkommen am Frankfurter Flughafen - sollte ein wenig korrigiert werden. Dies alles schien so gefährlich zu werden, daß in den Mainstream-Medien der frühere "Superminister" und heutige RWE-Lobbyist Wolfgang Clement gegen Ypsilanti in Stellung gebracht wurde. Dumm nur, daß auch diese Inszenierung ähnlich der des Ministerpräsidenten nach hinten losging und Ypsilanti zusätzliche Stimmen brachte. (Bezeichnend allerdings, daß Clement - im Gegensatz zu jedem kleinen SPD-Mitglied eines Ortsvereins, das sich Vergleichbares leisten würde - nicht aus der SPD ausgeschlossen wird.)

Bei Hermann Scheer zumindest wäre nicht auszuschließen gewesen, daß er die mit seiner Person verknüpften Wahlversprechen Ypsilantis tatsächlich versucht hätte durchzusetzen - wenn er denn eine Chance hierfür bekommen hätte. Hermann Scheer gehört zwar keineswegs - wie häufig kolportiert - zu den Pionieren der Solarenergie. Erst in den 1980er Jahren begann er sich für das Thema regenerative Ernergien zu interessieren. Bis dahin war Scheer braver SPD-Parteifunktionär, galt im Gefolge Egon Bahrs als Fachmann für Abrüstung und Rüstungskontrolle und saß im gleichnamigen Unterausschuß des Bundestages. Wie Scheer selbst freimütig einräumt, begann er sich erst in den 1980er Jahren Gedanken um Alternativen zur Atomenergie zu machen. Erst in dieser Zeit gründete er Eurosolar und gab dann Anfang der 1990er Jahre seine Funktion im Ausschuß und damit seine Partei-Karriere auf. Damit ist nun keineswegs gesagt, daß Scheer an die Rolle als "atompolitsches Feigenblatt der SPD", die er seitdem zu spielen hat, nicht auch selbst glaubt. Es wäre sonst außerordentlich schwer, eine Rolle, die zur Erfolglosigkeit verdammt, so viele Jahre mit einem klaren Bewußtsein und dem dann erforderlichen Zynismus durchzuhalten.

Da Scheer vermutlich kaum eine Hoffnung hat, daß seine Ziele außerhalb der überkommenen politischen Pfade umzusetzen seien, und er in einem Alter ist, in dem er die vermeintliche Chance in Hessen als seine letzte ansehen muß, wird das knappe Ergebnis in Hessen für ihn sicherlich äußerst bitter sein.

Freude herrscht derweil bei den AnhängerInnen der "Linken", die zu den Gewinnern der beiden Landtagswahlen zählt. Die "Linkspartei" hat mit dem Einzug in die Landesparlamente zweier westdeutsche Flächenstaaten ein wichtiges Ziel erreicht und hat berechtigte Hoffnung, die Isolation einer reinen Ostpartei durchbrochen zu haben. Doch daß nunmehr Einfluß auf die Politik ausgeübt werden könnte, bleibt nach wie vor völlig unrealistisch. Die "Linkspartei" hält sich zu gute, die SPD auf einen Kurswechsel nach links zwingen zu können. Doch bis jetzt hat sich bei der SPD außer der Rhetorik nichts verändert. Und dies war vorhersehbar.

Nach wie vor gibt es für die "Linkspartei" nur zwei Optionen: Die von der Funktionärsschicht der "Linkspartei" präferierte Option heißt, sich - ob per Koalition oder Tolerierung - in die Regierungspolitik einbinden zu lassen. Und zu welchen kaum überraschenden Ergebnissen dies führt, können die euphoristierten AnhängerInnen der "Linkspartei" nur dadurch verdrängen, daß sie sich standhaft weigern, die Realität der "rot-roten" Koalition in Berlin und die Bilanz der "rot-roten" Koalition in Mecklenburg-Vorpommern zur Kenntnis zu nehmen. Hierzu ist bereits alles ausführlich erörtert worden und kann bei Interesse nachgelesen werden.

Die andere Option bleibt - ob freiwillig oder unfreiwillig - die Oppositionsrolle. Und diese trägt im Gegensatz zu Lenins fehlerhafter Analyse - gerade in Zeiten einer neoliberalen Einheitsfront der Mainstream-Medien - nicht etwa dazu bei, mit Hilfe des Parlaments als Tribüne das Bewußtsein der Bevölkerung und die Kenntnis um die politischen Zusammenhänge und realen Machtverhältnisse zu stärken. Im Gegenteil wird so die Orientierung auf die "realexistierende Demokratie" bestärkt, der Glaube an eine StellvertreterInnen-Politik am Leben gehalten und die Entwicklung einer außerparlamentarischen Opposition behindert, deren Aufgabe es ist, eine demokratisches Gesellschaftsmodell und die Perspektive einer demokratischen Wirtschaft jenseits von Profitmaximierung und "Staatsozialismus" zu entwickeln.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe unsere Artikel:

      SPD mit Tempo 130
      in die Linkskurve? (30.10.07)

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      Parteien verlieren Mitglieder (26.06.07)

      Lafontaine will die Systemfrage stellen
      Ist die neue "Linkspartei" antikapitalistisch? (17.06.07)

      Wem gehört der Bundestag?
      Eine brillante politische Aktion in Berlin (27.04.07)

      Parlamentarismus überzeugt immer weniger
      82 Prozent: Wir haben nichts zu melden (30.12.06)

      "Schwarz-Rot" ist Minderheitsregierung
      "Große" Parteien bei 20 Prozent (6.09.06)

      Sieg der Demokratie
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      Hessens Marodeur Roland Koch
      droht mit "Heulen und Zähneklappern"
      "Schwarz-Rot" will 35 Milliarden im Bundeshaushalt kürzen
      (25.10.05)

      Wie lange noch bis "Rot-Rot-Grün"? (24.09.05)

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      Vereinigung von WASG und PDS unter seiner Führung? (24.05.05)

      37 Prozent gegen Rot-Schwarz-Grün-Gelb
      Abwahl in NRW (22.05.05)

      Fauler Zauber - Eine Chronologie..
      .."rot-grüner" Koalitionen und nicht gehaltener Versprechen
      (22.05.05)

      Kapitalismus oder Demokratie? (1.05.05)

      'taz' erklärt das Ende von "Rot-Grün" (1.03.05)

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