Stempel an 200 Rohrteilen fehlen
Das ARD-Magazin 'Kontraste' berichtete am gestrigen Donnerstag, daß im hessischen AKW Biblis, Block B, an etwa 200 Rohrteilen im äußerst sensiblen Notkühlsystem sogenannte Stempelfelder fehlen. Ein in dem TV-Beitrag interviewter Fachmann sagte aus, daß der Betrieb des AKW Biblis B unter den gegebenen Bedingungen dem Atomgesetz widerspreche.
Bei den fraglichen Stempelfeldern handelt es sich um obligatorische Sicherheits-Kennzeichnungen, die Aufschluß über die Materialqualität und die Belastbarkeit der Rohrteile geben. Diese Kennzeichnungen sind vorgeschrieben, damit es nicht zur Verwechsung mit weniger stabilen Rohrteilen kommen kann. Offen ist daher, ob die eingebauten Teile im Extremfall den Belastungen standhalten. Bei einer Befragung durch 'Kontraste' sagte der Leiter des AKW Biblis wörtlich, eine genaue Dokumentation der mit Spezialhämmern ins Metall eingeschlagenen Stempel sei beim Bau von Biblis in den 1970er Jahren "nicht zwingend erforderlich" gewesen. Dies entspricht nach 'Kontraste'-Recherchen nicht der Wahrheit.
Weder der neue Bundesatomminister Norbert Röttgen noch die hessische Atomaufsicht beantworteten entsprechende Anfragen der 'Kontraste'-Redaktion. Von der Kraftwerksleitung und dem Betreiber RWE war zunächst lediglich die Information zu erhalten, die Stempelfelder könnten im Laufe der Jahre im Zuge der wiederholten Sicherheits-Überprüfungen abgeschliffen worden sein. Erst nach Befragung von Fachleuten konnte 'Kontraste' aufdecken, daß sich anstatt der vorgeschriebenen Ziffern-Kombinationen an den entsprechenden Stellen der Rohrstücke lediglich einzelne Ziffern befinden, die über die Position der Teile Auskunft geben. Einer der befragten Fachleute, der selbst mit der Sicherheitsüberprüfung im AKW Biblis vertraut ist, schloß definitiv aus, daß Abschleifungen an Original-Rohrteilen - wie von RWE behauptet - für die fehlenden Stempelfelder ursächlich sein können.
Ein weiterer Fachmann, dem die 'Kontraste'-Redaktion ihre Recherche-Ergebnisse vorlegte, kommentierte sichtlich erschüttert: "Das ist ein dicker Hund." Er bestätigte, daß Biblis B unter diesen Umständen nicht hochgefahren werden darf und ein Betrieb des Reaktors dem Atomgesetz widerspreche. Eine dauerhafte Stempelung jedes einzelnen Teilstücks sei laut Atomgesetz zwingend für eine Betriebserlaubnis vorgeschrieben. Bei einem Verschwinden von Stempelfeldern hätte dies dokumentiert werden und die entsprechenden Rohrteile hätten einer neuerlichen Genehmigung unterzogen werden müssen.
Biblis B, das im April 1976 erstmals ans Netz ging, wurde nach einer über 9 Monate dauernden Revision am 12. November wieder hochgefahren. Die zuletzt vorgenommenen Arbeiten am Reaktor kosteten laut RWE 142 Millionen Euro. Repariert wurden nach Betreiber-Angaben unter anderem Rohrleitungen und elektrotechnische Komponenten. Der Beginn des Regelbetriebs verzögerte sich wegen "notwendiger Nachbesserungen" bis zum 30. November.
Der Reaktor war zuletzt im Oktober in die Schlagzeilen geraten, nachdem ein Regierungsgutachten publik geworden war. Demnach hatten ReaktorsicherheitsexpertInnen der Bundesregierung mindestens 53 schwerwiegende Sicherheitsmängel im AKW Biblis B aufgelistet. Gegen den Betrieb von Biblis B läuft derzeit eine Klage vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Ein Trumpf der KlägerInnen: In einem internen Vermerk hatte die hessische Landesregierung selbst eingeräumt, daß Biblis B nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entspreche.
Am 16. Dezember 1987 war es im AKW Biblis A zu einem schweren Unfall gekommen, der vom Betreiber RWE neun Monate geheimgehalten wurde. Ein offenstehendes Ventil hätte beinahe eine Kernschmelze ausgelöst, da eine unvorhergesehen Verbindung zwischen Hoch- und Niederdrucksystem zustande gekommen war. Dadurch bestand die Gefahr, daß eine vom Nachkühlsystem abzweigende Prüfleitung aufgrund des hohen Drucks aufplatzt und das den Reaktor vor Überhitzung schützende Kühlwasser in größeren Mengen entweicht. Der damalige hessische Umweltminister Karlheinz Weimar erklärte später in einer Regierungserklärung, der Störfall hätte mit "höherer Wahrscheinlichkeit" zur Katastrophe führen können. Doch die Atom-Aufseher benötigten ganze neun Monate, "bis sie wenigstens intern zugaben, daß die dichtbesiedelte Rhein-Main-Region gerade nochmal davongekommen war." (Der Spiegel, Hamburg, Nr. 51, S. 27,28, 19.12.1988)
1995 waren bei einem Leck in Biblis B infolge eines nahezu vollständig abgerissenen Rohres stündlich rund vier Tonnen radioaktiver Wasserdampf ausgetreten. Das betreffende Rohr hatte nicht die Festigkeitswerte aufgewiesen, die vorgeschrieben waren. Die von RWE vorgelegten Prüfzeugnisse hatten aber die geforderte Qualität bescheinigt. Das Rohr bestand aus dem gleichen Stahl, aus dem auch die nun gefundenen Rohteile bestehen, an denen die Stempelfelder fehlen.
Am 14. Dezember 2001 hatte im AKW Brunsbüttel eine Wasserstoff-Explosion eine Rohrleitung im Sicherheitsdruckbehälter des Reaktors auf eine Länge von zwei Metern völlig zerfetzt. Der "Störfall" wurde erst im Februar 2002 bekannt. Das Kontroll-Personal hatte zunächst als harmlosteste mögliche Ursache eine schadhafte Dichtung angenommen. Die erst drei Monate später (nach winterlichen Spitzenlasten im Stromgeschäft) informierte Bundesaufsicht ordnete die sofortige Abschaltung an.
Eine Katastrophe im AKW Biblis würde unter den 3,4 Millionen Menschen der Großregion Rhein-Main über eine Million Krebskranke verursachen, ein Gebiet von der Größe der Schweiz für Jahrzehnte unbewohnbar machen und als Untergrenze mindestens 500 Milliarden Euro kosten.
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
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